Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Personalmangel auf der Intensivstation
Seit 2019 soll eigentlich eine Pflegekraft auf 2,5 Patienten kommen – Kritik am neuen Gesetz
Von Katja Korf
GSTUTTGART - Eine Pflegekraft für höchstens 2,5 Patienten auf der Intensivstation, eine für zehn in der Unfallchirurgie: Seit 2019 müssen Krankenhäuser sich an solche Vorgaben halten. Die Zwischenbilanz für Baden-Württemberg: Im ersten Halbjahr wurde das Ziel bei jeder zehnten Schicht in den betroffenen medizinischen Fachgebieten nicht erreicht. Im Bundesschnitt liegen die Zahlen deutlich höher. Das Ziel des Gesetzes von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist klar. Patienten sollen überall gut betreut werden. Dafür plädieren auch Kliniken in der Region – doch aus ihrer Sicht löst das neue Gesetz die Probleme nicht. Unterstützung erhalten sie von der FDP.
„Dieses bürokratische Konstrukt kann die Versorgung verschlechtern“, sagt Jochen Haußmann, Gesundheitsexperte der FDP-Landtagsfraktion. „Den ohnehin unter finanziellem Druck stehenden Krankenhäusern werden ohne Gegenfinanzierung weitere Lasten aufgedrückt, weil sie zusätzliches Personal für die extrem aufwendige Dokumentation bereitstellen müssen. Davon gibt es aber keine einzige Fachkraft mehr.“Haußmann spricht an, was Verantwortliche in den Krankenhäusern der Region monieren. Denn die neuen Pflichten bringen für die Kliniken mehrere Probleme mit sich. So müssen sie dokumentieren, wer wann auf welchen Stationen arbeitet, müssen zum Teil ihre Schichtmodelle ändern oder auf die Personalschlüssel, die der Bund fordert, umrechnen. Irma Heine-Penning, Pflegedienstleiterin am Klinikum des Landkreises Tuttlingen, beschreibt die Folgen:„Ein zusätzlicher administrativer Aufwand ist neben der Neuorganisation der Dienstpläne auf allen Stationen nach wie vor die zweimalige tägliche Überwachung der Einhaltung der Pflegeuntergrenzen. Dieser Aufwand wird nicht refinanziert.“Eine neue Stelle hat ihr Haus dafür in der Verwaltung eingerichtet. Weder die Kassen noch andere Geldgeber übernehmen die Kosten dafür.
Einige Häuser haben mehr Krankenschwestern und Pfleger eingestellt, um die Anforderungen erfüllen zu können. Deren Lohn zahlen die Krankenkassen. So haben die Oberschwabenkliniken Ravensburg 60 neue Stellen geschaffen. Jan-Ove Faust, Direktor Medizin und Behandlung, erklärt: „Der Plan ist das eine, seine Umsetzung das andere. Natürlich ist es eine sportliche Aufgabe, zusätzlich zur Fluktuation auf einem eigentlich leer gefegten Arbeitsmarkt auch noch zusätzliche Kräfte zu gewinnen. Bisher hat das Haus die Hälfte der Stellen tatsächlich besetzt. „Ließe sich das Personal im entsprechenden Maße gewinnen, wäre das im Sinne der Patientenversorgung eine sehr gute Sache. So werden die Untergrenzen leider zu einer rein theoretischen bürokratischen Vorgabe, durch die sich weder die Arbeitssituation der Fachkräfte noch die Pflege der Patienten verbessert“, bilanziert Faust.
Derzeit gelten die Vorgaben für vier Fachgebiete, nämlich für Intensivstationen, Unfallchirurgie, Altersmedizin und Kardiologie. Zahlen aus dem Stuttgarter Sozialministerium für die Südwest-Kliniken zeigen: Im ersten Quartal
2019 fehlten bei 18
Prozent der Schichten in der Intensivmedizin Pflegekräfte, die Vorgaben wurden nicht erfüllt. Die anderen Fachgebiete erfüllten die Untergrenzen häufiger. Im zweiten Quartal besserten sich die Zahlen, nur vier Prozent der Schichten in Kardiologie und Altersmedizin waren unterbesetzt, auf Intensiv- und kardiologischen Stationen acht Prozent. Zum Vergleich: Im Bund erfüllten Kliniken über alle vier Fachbereiche hinweg bei jeder zehnten Schicht die Kriterien nicht.
In solchen Fällen drohen den Krankenhäusern künftig Sanktionen. Ausnahme: Es fällt kurzfristig sehr viel Personal aus oder es kommen
„Dieses bürokratische Konstrukt kann die Versorgung verschlechtern“
Jochen Haußmann, Gesundheitsexperte der FDP-Landtagsfraktion
sehr viele Patienten, etwa nach einer Katastrophe oder bei einer Epidemie. Die Kassen können in allen anderen Fällen ihre Zahlungen kürzen – wer zum Beispiel die Zahlen zum Personaleinsatz nicht einmal im Quartal übermittelt, muss mit einem Abschlag von 20 000 Euro rechnen. Um solchen Sanktionen zu entgehen, müssen Häuser, denen Personal fehlt, Betten oder gar Stationen sperren. Deutschlandweit kam das laut einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Krankenhausinstitutes bei 37 Prozent der Intensivstationen bereits vor, Zahlen für den Südwesten gibt es noch nicht. Die Oberschwabenkliniken, das Klinikum Friedrichshafen und die Kreiskliniken Tuttlingen mussten zumindest zeitweise Betten sperren, die Häuser in Sigmaringen und Biberach bislang noch nicht.
Die zwischen Bodensee, Alb und Allgäu vorgetragene Kritik lässt die AOK nicht gelten. „Dass Pflegekräfte derzeit in einigen Krankenhäusern nicht ausreichend vorhanden sind, darf nicht dazu führen, dass von dem Ziel einer Definition guter Pflegeausstattung abgerückt wird. Aus Sicht der AOK Baden-Württemberg könnte das bestehende Pflegepersonal
bei Abbau bestehender Überkapazitäten im stationären Bereich durchaus sinnvoller eingesetzt werden“, teilt ein Sprecher mit. Soll heißen: Wenn mehr kleine Krankenhäuser schließen würden, wäre mehr Personal für die anderen da. Außerdem halte sich der zusätzliche Verwaltungsaufwand nach Auffassung der AOK in Grenzen.
Die Bundesregierung verweist darauf, dass die neuen Vorgaben nur ein Baustein im Konzept für bessere Pflege seien. So soll der Job attraktiver werden, um mehr Menschen dafür zu begeistern: Die Löhne sollen steigen, etwa durch einen bundeseinheitlichen Tarif, die Ausbildung aufgewertet, die Arbeitsbedingungen besser werden. Der Bund hat mehr Geld in neue Pflegestellen gesteckt.
Ab 2020 werden die Untergrenzen für weitere Stationen in den Kliniken verbindlich: für Herzchirurgie, Neurologie, Schlaganfall-Einheiten und die neurologische Frührehabilitation. Was das bedeuten kann, beschreibt Klinikdirektor Faust so: Um dem Ansturm der Patienten Herr zu werden, müssten Kliniken diese möglichst rasch entlassen – nur so lasse sich mit wenig Personal jeder behandeln. Für Schwester und Pfleger heißt das: mehr Arbeit in kürzerer Zeit. „Dass wir dazu gezwungen sind, stößt beim Personal verständlicherweise auf wenig Begeisterung und ist auch nicht in unserem Sinne“, so Faust.