Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Bahnfahren wird in Frankreich zur Lotterie
Auch an Weihnachten streiken die Eisenbahner gegen Macrons Pläne für eine Rentenreform – Ihr Rückhalt in der Bevölkerung bröckelt
Von Christine Longin
GPARIS - Auch zu Weihnachten macht die Protestbewegung gegen die Rentenreform in Frankreich keine Pause. Betroffen ist vor allem der Großraum Paris.
Wer in diesen Tagen in Frankreich seine Mails und SMS checkt, tut das nicht, um Weihnachtsgrüße zu lesen. Wichtig ist vielmehr die Post von der SNCF, die mitteilt, ob der Zug über die Feiertage fährt oder wegen des Streiks gestrichen wurde. Wenige Tage vor dem Reisetermin verschickt die Staatsbahn in der Regel ihre Informationen, die über ein gelungenes Fest entscheiden können. Eine Art Weihnachtslotterie für die Passagiere:
Die Hälfte der 850 000 Passagiere, die für das letzte Adventswochenende einen Zug gebucht hatten, konnten ihn auch nutzen. Etwa 15 Prozent bekamen andere Verbindungen vorgeschlagen und der Rest musste entweder selbst umbuchen oder sich das Ticket erstatten lassen.
Seit fast drei Wochen dauert der Streik gegen die Rentenreform schon – und ein Ende ist nicht absehbar. Die Gewerkschaften der Eisenbahner lehnten fast einstimmig eine Pause während der Feiertage ab. Zu groß ist die Sorge, dass die Bewegung hinterher an Fahrt verliert. Schon jetzt ist die Zustimmung zum Streik von 56 auf 51 Prozent gesunken. Ein Ausstand, der ihnen das Fest verdirbt, ist vielen der streikerprobten Franzosen dann doch zu viel. Am letzten Wochenende vor Weihnachten war einer von zwei TGV, einer von vier Intercitys und einer von drei Regionalzügen TER unterwegs. Etwas besser sah es auf den Verbindungen ins Ausland aus: Zwischen Paris und Stuttgart wurde beispielsweise nur jeder vierte Zug gestrichen. Die anderen waren allerdings ausverkauft, so dass alle, die wegen des Streiks umbuchen mussten, das Nachsehen hatten.
Der Gewinner heißt Flixbus Gefragte Alternativen der Bahn sind Mitfahrgelegenheiten wie Blablacar oder Flixbus. Der Marktführer in Frankreich wirbt ganz offensiv damit, wegen des Streiks doch seine grünen Reisebusse zu nutzen. Das deutsche Unternehmen gehört schon jetzt zu den Gewinnern des Arbeitskampfes: 700 000 Passagiere transportierte es in zwei Streikwochen gegenüber 200 000 sonst in derselben Zeit. Die Preise gingen wegen der hohen Nachfrage allerdings kräftig nach oben: Die Strecke ParisStraßburg, die sonst für 20 Euro zu haben war, kostet derzeit knapp 80 Euro.
Franzosen, die über die Feiertage geplant hatten, nach Paris zu fahren, verzichten lieber auf ihren Ausflug in die Hauptstadt. Denn die beliebten
Weihnachtsspektakel werden oft abgesagt und in den Museen herrschen verkürzte Öffnungszeiten. Lediglich Asiaten und Amerikaner, die ihre Reise schon lange vorher gebucht hatten, kommen auch tatsächlich. In Paris erwartet sie allerdings ein Verkehrschaos, denn auch bei den Verkehrsbetrieben RATP wird gestreikt. Am Sonntag fuhren nur die beiden automatischen Linien 1 und 14 durch die Hauptstadt. Auch die Vorortbahnen
RER, die beispielsweise das Schloss Versailles oder den Flughafen Charles de Gaulle anfahren, waren weitgehend unterbrochen. Tausende Pariser stiegen deshalb auf Elektro-Tretroller oder Fahrräder um, die mittlerweile die Radwege verstopfen. Für alle unfreiwilligen Fußgänger veröffentlichte die Zeitung „Le Parisien“am Freitag eine bunte Karte mit den Zeiten, die nötig sind, um von einem Punkt der Stadt zum anderen zu kommen.
Die zwölf Millionen Einwohner des Großraums Paris bewegen sich derzeit vor allem zwischen ihrem Arbeitsplatz und zu Hause hin und her. Die Weihnachtseinkäufe erledigen sie dieses Jahr vor allem im Internet, so dass der Einzelhandel leidet, dem im vergangenen Jahr schon die Proteste der „Gelbwesten“zu schaffen machten. Laut Pariser Handelskammer verzeichneten die Läden der Innenstadt 30 Prozent weniger Kunden als 2018. Ähnlich düster sieht es bei den Hotels aus, die über Stornierungen wegen des Streiks klagen. Auch die Restaurants sind weniger besucht als sonst zum Jahresende. Gutes Essen scheint in Streikzeiten eher Nebensache zu sein.