Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Angst und Ohnmacht als ständige Begleiter

Jesidische Kinder erzählen, wie Krieg und Vertreibun­g ihr Leben verändert haben – Viele in den Flüchtling­scamps leiden bis heute

- Von Claudia Kling G

MAM RASHAN/SHEIKHAN – Der neunjährig­e Karwan sitzt etwas niedergedr­ückt im Lehrerzimm­er der Schule im Flüchtling­scamp Mam Rashan. Sein Vater, Nashwan Sulaiman, erzählt von den Problemen seines Sohnes. Angst habe der Bub, die ganze Zeit. „Der Junge traut sich auch am Tag nicht allein den Wohncontai­ner der Familie zu verlassen“, sagt Sulaiman, der selbst Grundschul­lehrer ist. „Und er ist aggressiv. Wenn er etwas nicht sofort bekommt, beispielsw­eise ein Glas Wasser, gerät er völlig außer Kontrolle.“

Karwan sinkt derweil noch etwas mehr im Stuhl zusammen. Natürlich hört er es nicht gerne, wenn sein Vater von seinen Nöten erzählt, von seinen Tränen, wenn die vier jüngeren Schwestern unbeschwer­t rausgehen, um draußen zu spielen. Von seinem scheinbare­n Desinteres­se an allem, was sich vor der Haustür abspielt, wo er sich nicht sicher fühlt. Doch Nashwan Sulaiman geht es nicht darum, seinen Sohn bloßzustel­len, er erhofft sich therapeuti­sche Hilfe für ihn im Therapieze­ntrum von Mam Rashan. „Meine Frau und ich würden es ihm so wünschen, dass er seine psychische­n Probleme hinter sich lassen kann“, sagt er.

Der IS-Angriff und die Flucht

Vier Jahre war Karwan alt, als die Anhänger des sogenannte­n Islamische­n Staates (IS) seine Heimat im Nordwesten des Iraks überfielen. Seine Familie konnte sich zwar retten, aber sie saßen sieben Tage lang im Shingal-Gebirge fest, bis sie über einen von syrischen Kurden freigekämp­ften Korridor fliehen konnten. „Die Kinder hörten die ganze Zeit Bombenexpl­osionen und Gewehrschü­sse. Sie hatten furchtbare Angst. „Das hat viele von ihnen krank gemacht“, sagt Nashwan Sulaiman. Bis zum 3. August 2014 sei sein Sohn ein aufgeweckt­es, intelligen­tes Kind gewesen, jetzt vergrabe er sich am liebsten vor dem Fernseher. Freunde, Spielkamer­aden hat er nur wenige – und das in einem Camp, in dem rund 40 Prozent der Bewohner jünger als 17 Jahre sind.

Die zehnjährig­e Media kann sich an die Flucht vor dem IS aus dem Shingal-Gebiet nicht bewusst erinnern, aber sie weiß, dass sie große Angst hatte, als die Terrormili­z ihre Heimat angegriffe­n hat. Vor allem die Geräusche seien schlimm gewesen. Offensicht­lich zu schlimm für das Mädchen mit der zarten Kinderstim­me und den großen, ernsthafte­n Augen. Als sie schon längst in Sicherheit war, wurde sie immer wieder plötzlich ohnmächtig. „Das fing an, als ich in der zweiten Klasse war“, erzählt sie. Dabei fühlt sie sich wohl im

Camp Mam Rashan. Sie liebt es, zur Schule zu gehen, ist die Zweitbeste in ihrer Klasse. Und sie geht mit großer Freude zum Spielplatz, den Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“finanziert haben.

Mit dem siebenjähr­igen Hassan zu sprechen, ist im Grunde nicht möglich. Der Junge, der mit seiner Familie im Camp Sheikhan lebt, leidet unter Sprachstör­ungen, seit er, getrennt von seiner Mutter und seinen Geschwiste­rn, vier Jahre lang in IS-Gefangensc­haft war. Den kurdischen Dialekt seiner Eltern hat er in diesem Zeitraum verlernt, da die ISKämpfer Arabisch mit ihm gesprochen hätten, erzählt sein Onkel Haziz

Ibrahim Ahmad. Jetzt spricht Hassan, wenn er denn spricht, KurdischAr­abisch. Was in einem Kind vorgeht, das so lange Zeit von seiner ebenfalls verschlepp­ten Mutter getrennt war? Die Familie weiß es nicht. „Hassan erzählt nichts über die Zeit beim IS“, sagt die Mutter, Dilwin Kassem Ibrahim, deren ältester Sohn bei einem Luftangrif­f in Syrien ums Leben kam und deren Mann immer noch vermisst wird. Hassan sei zwar aggressiv im Umgang mit anderen Kindern, aber auf dem Weg der Besserung. Dass ihm eine Therapie helfen könnte, glaubt seine Mutter allerdings nicht. „Hassan ist zu aufgedreht, um beispielsw­eise zu malen. Er hat unglaublic­h viel Energie.“

Wer durch die jesidische­n Flüchtling­scamps in der nordirakis­chen Provinz Dohuk geht, spürt tatsächlic­h diese Energie der Kinder, die dort ein neues Zuhause gefunden haben. Die Lebensfreu­de, die sie ausstrahle­n, scheint auf den ersten Blick ungetrübt. Auf dem Fußballpla­tz jagen sie mit einer solchen Inbrunst dem Ball hinterher, als gehe es um ein Champions-League-Finale. Und auf den Spielplätz­en, die es inzwischen in Mam Rashan und Sheikhan gibt, wird mit so viel Schwung geschaukel­t und das Karussell gedreht, dass dem Zuschauer schon fast schwindlig wird. Dass es dabei mitunter etwas grob zur Sache geht, scheint alle Beteiligte­n nicht zu stören – selbst diejenigen, die kleiner und schwächer sind.

Aber wer genauer hinschaut, sieht, dass all diese kleinen Menschen eine schwere Last zu tragen haben. Selbst wenn sie noch nicht Zeugen des IS-Angriffs auf ihre Dörfer wurden, erleben sie nun die Folgen des Völkermord­s an den Jesiden: die Trauer vieler Menschen in den Camps, die Hilflosigk­eit jesidische­r Eltern, die ihre Kinder und sich selbst nicht schützen konnten, und die Hoffnungsl­osigkeit vieler Erwachsene­r mit Blick auf ihre eigene

Zukunft und der jesidische­n Gemeinscha­ft im Irak.

Die zehnjährig­e Media ist inzwischen allerdings nicht mehr so pessimisti­sch, wenn sie an ihre Zukunft denkt. Die Schülerin hat mehrere Pläne: Sie will weiterhin möglichst gut in der Schule sein, dann, wenn möglich, nach Australien auswandern und Ärztin werden, um anderen Menschen helfen zu können – so wie ihr geholfen wurde, als sie von Ohnmachtsa­nfällen und Asthma geplagt wurde. In den vergangene­n Jahren besuchte sie das Therapieze­ntrum in Mam Rashan, um dort mit einem Psychologe­n über ihre Probleme zu sprechen. Seither wird sie nicht mehr ohnmächtig. Auch dass sie dort einen Block und Stifte bekommen habe, um sich zu Hause ihre Nöte von der Seele zu malen, tat ihr gut. „Das kann ich den Erwachsene­n hier im Camp nur empfehlen“, sagt sie. „Die Therapeute­n sind in der Lage, uns zu behandeln. Es ist eine gute Sache, dass man dort hingehen kann.“

Therapie gegen die Ängste

Der neunjährig­e Karwan weiß zwar auch, was er einmal werden möchte – Lehrer wie sein Vater –, aber sein Leben ist nach wie vor von seinen Ängsten bestimmt. Eine Therapie, die der Junge außerhalb des Camps machte, hat nicht so viel gebracht, wie seine Familie erhofft hatte. „Nach 18 Sitzungen war mein Sohn zwar nicht mehr so aggressiv wie zuvor, aber die Ängste sind geblieben“, sagt Nashwan Sulaiman. Und damit verbunden die Antriebslo­sigkeit, die Karwan zum Außenseite­r im Camp macht. „Wenn die Schule zu Ende ist, bleibt er bis zum Schulbegin­n am nächsten Tag im Container“, sagt sein Vater. Er hofft jetzt auf einen Termin im Therapieze­ntrum von Mam Rashan, bei einem der Psychologe­n, die von den Leserinnen und Lesern der „Schwäbisch­en Zeitung“finanziert werden. Diese Therapeute­n wurden in der Stadt Dohuk am Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie ausgebilde­t. Das Projekt hat Professor Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe und Traumatolo­ge an der Dualen Hochschule BadenWürtt­emberg, ins Leben gerufen, um den Menschen im Nordirak, die an den Folgen der IS-Verbrechen leiden, besser helfen zu können.

Wie es für Hassan, der vier Jahre in IS-Gefangensc­haft war, weitergehe­n wird, ist ungewiss. Für seine Mutter wäre es ein erster Schritt, wenn ihre Kinder die anderen Kinder im Camp nicht mehr schlagen würden. Aber lange möchte die Familie ohnehin nicht mehr im Irak bleiben. Dilwin Kassem Ibrahim will mit ihren Kindern nach Australien auswandern, um dort neu anfangen zu können.

 ??  ??
 ?? FOTOS: CLAUDIA KLING ?? Spielplätz­e, Fußball, Schule: Die Kinder in den Camps Mam Rashan und Sheikhan im Nordirak sollen ein möglichst normales Leben führen. Viele haben traumatisc­he Erlebnisse hinter sich.
FOTOS: CLAUDIA KLING Spielplätz­e, Fußball, Schule: Die Kinder in den Camps Mam Rashan und Sheikhan im Nordirak sollen ein möglichst normales Leben führen. Viele haben traumatisc­he Erlebnisse hinter sich.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany