Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Kinder brauchen ein Minimum an Privatsphäre, Spielmöglichkeiten und Bildung“
Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg M. Fegert erklärt, welche Folgen traumatische Ereignisse haben können und wie sie bewältigt werden
RAVENSBURG - Professor Dr. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Ulm, sieht gute Chancen, dass Kinder, die unter den Folgen traumatischer Situationen leiden, geheilt werden können. Der Weg dorthin führe vor allem über das Erzählen des Erlebten, sagt Fegert, der zudem Sprecher des Zentrums für Traumaforschung der Universität Ulm ist, im Interview mit Claudia Kling. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass die Kinder an einem Ort lebten, an dem sie sich sicher und geborgen fühlten.
Warum reagieren manche Kinder mit Ohnmachtsanfällen oder großen Ängsten auf Gefahren, selbst wenn die eigentliche Gefahr schon längst vorüber ist?
Traumatische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen führen, wenn keine effektive Traumatherapie erfolgt, häufig zu Angst und Vermeidung möglicherweise belastender Situationen im Alltag. In bestimmten Situationen fühlen sich die betroffenen Kinder auch durch Reize und Erinnerungen überflutet. Bisweilen macht sich das dann auch körperlich, zum Beispiel in einem Ohnmachtsanfall,
deutlich. Andere Kinder wirken eher wie weggetreten, haben Konzentrationsschwierigkeiten und Ähnliches.
Warum werden manche Kinder aggressiv, wenn sie, wie beispielsweise die jesidischen Kinder, Zeugen schlimmer Gewalttaten wurden? Manchmal finden wir in der Allgemeinbevölkerung stereotype Vorstellungen über Betroffene oder Opfer von potenziell traumatisierender Gewalt. Wir erwarten, dass die Betroffenen traurig, depressiv, ängstlich sind und nehmen dabei nicht wahr, dass Störungen der Impulskontrolle und Aggression auch eine der häufigen Folgen sind. In einer Repräsentativbefragung von circa 2500 Personen in der deutschen Bevölkerung haben wir nach zehn unterschiedlichen, belastenden Kindheitsereignissen gefragt. Wenn die Befragten vier und mehr solcher Belastungen erlebt haben, hatten sie im zurückliegenden Jahr deutlich mehr körperliche Auseinandersetzungen, zum Beispiel am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit, und deutlich mehr verbal-aggressive Auseinandersetzungen. Die jesidischen Kinder reagieren hier also nicht untypisch, sondern Aggression gehört zu den Folgen des Miterlebens schlimmer Gewalttaten.
Was bedeutet es für die Kinder, dass ihre eigenen Eltern sie nicht vor der Gefahr schützen konnten? Wir alle erwarten von Eltern und Institutionen Schutz. Wenn dieser elementare Schutz nicht gewährt werden kann, führt das zu einem zentralen Erleben von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. Hier wird Vertrauen erschüttert, sehr häufig fühlen sich Kinder auch verantwortlich für ihre „ohnmächtigen“Eltern. Sie wollen dann den Eltern helfen, wieder Kontrolle zu bekommen.
Das Sprichwort sagt „Zeit heilt alle Wunden“. Gilt das auch im Falle von traumatisierten Kindern?
So würde ich es nicht sagen, denn man kann diese schlimmen Ereignisse nicht ungeschehen machen. Viele Betroffene reagieren aber erstaunlich positiv nach einer Phase erster Erschütterung und Belastung. Man spricht teilweise von Resilienz. Das bedeutet, dass Kinder wie imprägniert erscheinen und diese schweren Belastungen nicht zu diesen erheblichen Folgen führen müssen, wie wir sie oben genannt haben. Durch wirksame Traumatherapien wird es möglich, das Geschehene anzusprechen. Für Geflüchtete haben wir in Ulm beispielsweise traumapädagogische Gruppenprogramme wie das Pronen gramm „Mein Weg“. Dabei geht es darum, eine Erzählung darüber zu verfassen, wie man nach Deutschland in Sicherheit gekommen ist und was man bis dahin alles erlebt hat. Das macht das Geschehene nicht ungeschehen, aber es erleichtert das Aushalten und es ermöglicht wieder bessere soziale Teilhabe und die Reduktion von Angst.
Was brauchen Kinder, um sich in einer Umgebung wie in einem Flüchtlingscamp geborgen und sicher fühlen zu können?
Sie brauchen ein Minimum an Privatsphäre, sie brauchen Spielmöglichkeiten, sie brauchen Bildung. Unicef hat sehr gut deutlich gemacht, wie man solche Unterbringungen kindgerecht ausgestalten kann. Kinder brauchen aber auch, gerade in Flüchtlingscamps, Schutz vor Gewalt. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Herr Rörig, hat eine Checkliste vorgestellt, die all diese Institutionen berücksichtigen sollten. Am Kompetenzzentrum Kinderschutz hier in Ulm haben wir unter dem Titel „Shelter“ein E-LearningProgramm für ehrenamtliche und professionelle Helfer in Institutio
erarbeitet. Darin werden solche Schutzkonzepte ausführlich erläutert.
Was hilft den Kindern am meisten: Medikamente, Gesprächstherapie, Sport, Malen, Musik, Spielmöglichkeiten – alles zusammen?
Das Zentrale ist zunächst einmal, einen sicheren Ort für diese Kinder zu schaffen, deshalb ist Ihre Frage nach dem, was Kinder in einer Unterbringungssituation benötigen, so wichtig. Wenn Kinder sich geborgen und sicher fühlen, geht es darum, das Erlebte zu verarbeiten, das heißt vor allem, das Ganze erzählen zu können und es aushalten zu können. In unseren Fachbegriffen würden wir sagen, Kinder formulieren ein Trauma-Narrativ, also eine Erzählung. Mit dieser Erzählung setzen sie sich dann auseinander, bis die Angst und das Gefühl des Überwältigtseins nicht mehr so stark sind. Mit solchen sogenannten Expositionstherapien gibt es sehr gute Heilungschancen. Andere kreative Therapien unterstützen darin, wieder Freude am Leben zu finden, seinen eigenen Ausdruck zu finden und einen Ort und Personen zu finden, bei denen man dazugehören darf.