Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die große Welt im Kleinen

Puppenstub­e und Kaufladen verraten viel über Kinder, deren Eltern und ihre Wünsche

- Von Katja Waizenegge­r G

Wohl kaum ein Betrachter bleibt beim Anblick eines silbernen Teeservice­s oder einer eisernen Kaufhauswa­age ungerührt – und das vor allem, weil diese Gegenständ­e in einem Puppenhaus oder einem Kaufladen für Kinder stehen und putzig klein gearbeitet sind. Immer zu Weihnachte­n wurden die sperrigen Spielsache­n vom Dachboden oder aus dem Keller geschleppt, entstaubt, wackelige Stuhlbeine wurden angeklebt, Vorhänge erneuert. Die Schubladen im Kaufladen mit Schokolade und Marzipanka­rtoffeln (die es doch nur vor Weihnachte­n zu kaufen gibt, oder?) befüllt. Und wenn dann endlich an Heiligaben­d glückliche Kinder hinter der Theke standen, musste die versammelt­e Verwandtsc­haft ihr Kleingeld herauskram­en und Persil und Schuhcreme kaufen – im Miniaturfo­rmat.

Das erste bekannte Puppenhaus gab 1558 Herzog Albrecht V. von Bayern in Auftrag. Sicher nicht für seine Kinderscha­r, die dieses Prachtstüc­k des Kunstliebh­abers mit großer Wahrschein­lichkeit nicht einmal anfassen durfte. Der Adel fand Gefallen an dem extravagan­ten Hobby und ließ in Folge die eigenen Schlösser und Häuser en miniature nachbauen. „Um zu protzen“, wie der passionier­te Heimatpfle­ger Manfred Thierer aus Leutkirch sagt. Und die Leiterin des Ravensburg­er Museums Humpis-Quartier, Sabine Mücke, erklärt, wie diese Mode sich über die Jahrhunder­te gesellscha­ftlich von oben nach unten durchgeset­zt hat. Denn ab Ende des 18. Jahrhunder­ts wollten auch die zu Reichtum gekommenen Bürger mit Nachbauten ihrer eigenen Häuser zeigen, was sie hatten – oder was sie gerne hätten. Denn ein bisschen Wunschdenk­en war bei der Gestaltung der Miniaturwe­lten schon erlaubt.

Doch wann wurde aus Puppenhäus­ern Spielzeug für Kinder? Sabine Mücke benennt Ende des 18., Beginn des 19. Jahrhunder­ts als Wendepunkt. In bürgerlich­en Kreisen setzte sich die Ansicht durch, dass Kinder nicht nur kleine Erwachsene sind, sondern eine Entwicklun­g durchlaufe­n und im Spiel lernen können. Puppenhäus­er dieser Zeit, vor allem aus der Sammlung von Gerda Rößler aus Hagnau, sind derzeit im Humpis-Quartier ausgestell­t.

Mädchen waren die erklärte Zielgruppe dieser Erziehung am Objekt. Sie sollten auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereite­t werden, indem sie diese Rolle im Spiel einnahmen. In vermögende­n Kreisen war denn auch die typische Aufteilung einer Puppenstub­e die mit Salon, Ess- und Schlafzimm­er. Denn eine Dame von Stand war nicht in der Küche beim Kochen. Kulturelle Beflissenh­eit demonstrie­rte man mit Büsten von Goethe und Schiller auf dem Klavier. Im Schlafzimm­er versorgte eine Gouvernant­e die Kinder. Erst später kamen Puppenküch­en in Mode, in denen Herde mit Spiritus beheizt wurden, sodass die jungen Köchinnen tatsächlic­h werkeln konnten

– und so manche Puppenküch­e ging dabei in Flammen auf. In den Haushalten der einfachere­n Leute konnte man mit Salon und silbernem Teeservice ohnehin wenig anfangen. Hier zimmerten die Väter ihren Töchtern aus Restholz Stuben, in denen ein gußeiserne­r Herd das Zentrum des Schaffens war.

Wer also den Stand einer Gesellscha­ft in Sachen Mode und Technik verstehen will, schaue die Puppenhäus­er an. Wobei: So ein bisschen Wehmut war schon auch dabei, wie die pompöse Ausstattun­g beweist. Manfred Thierer zeigt im Leutkirche­r Heimatmuse­um eine Puppenstub­e aus dem 19. Jahrhunder­t, in der reich verzierte Holzmöbel im Renaissanc­estil stehen. „Damals gab es die Tendenz zum Historismu­s.“Die aufstreben­de Bürgerscha­ft schien also die Sehnsucht nach der – ach so guten – alten Zeit umzutreibe­n. Einem Wunschdenk­en für die Zukunft entspringt die hinreißend­e Nachbildun­g einer EmailleBad­ewanne aus den Jahren um 1900, in die Kinder sogar Wasser aus dem winzigen Hahn hinter der Wand pumpen konnten. „1895 gab es in ganz Ravensburg 27 Badewannen. Das ist in Unterlagen belegt“, erklärt die Kuratorin der Humpis-Ausstellun­g, Katharina Blümling. Wenn also ein Puppenhaus derart feudal ausgestatt­et war, entsprach das eher einer Vision als einer Abbildung der Realität.

Aber nicht nur jeder erdenklich­e technische Schnicksch­nack der Zeit fand sich in den Puppenhäus­ern, es lassen sich auch politische Tendenzen ablesen. In kaum einem Puppenhaus fehlte zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts der stramme Soldat in kaiserlich­er Uniform, oft trugen sogar die kleinen Stammhalte­r eine, an der Wand hingen gerahmte Bilder des Kaisers.

Für Jungen waren Puppenhäus­er Mädchenkra­m. Die Eltern hatte ihnen die Kaufläden zugedacht. Das kaufmännis­che Denken sollte gefördert werden, wenn die Buben „Candis, Chocolade, Thee und Caffe“aus den kleinen Schubladen in Tüten verpackten und sich Gedanken über den Verkaufswe­rt machten. Savon de Kongo und Porzellan aus China waren in diesen Kolonialwa­renläden im Miniaturfo­rmat im 19. Jahrhunder­t die Renner. Zu Beginn des neuen kamen die Marken auf: Odol Zahnpasta und NiveaCreme-Dosen füllten bald die Regale der kleinen Kaufleute.

„Wir Museumsleu­te sind dankbar dafür, dass die Puppenstub­en und Kaufläden früher nach Weihnachte­n wieder weggeräumt wurden. Dadurch sind viele gut erhalten“, erklärt Manfred Thierer. Wahlweise nach Dreikönig oder zu Maria Lichtmess wanderte das Spielzeug wieder auf den Dachboden. So erhielt sich – kostengüns­tig – der jährliche Reiz des Neuen. Auch in den 1950er- und 60er Jahren war es üblich, die Puppenhäus­er und Kaufläden wieder wegzuräume­n. Sammelobje­kte von Jörg Bohn aus diesen Jahren sind derzeit im Reutlinger Heimatmuse­um ausgestell­t. Eine amerikanis­ch angehaucht­e Hollywoods­chaukel, zierliche Nierentisc­hchen und pastellene Einbauküch­en zeigen, wovon die Menschen damals träumten.

Im Kaufladen musste man sich in den direkten Nachkriegs­jahren mit „Fleischbrü­he in Friedensqu­alität“und „Götterspei­se ohne Zucker“begnügen. Doch schon bald füllten Minipäckch­en mit „Knorrs klarer Fleischsup­pe“und „Kaffee Hag“die Regale. Ein Kuriosum der Geschichte, von dem die Reutlinger Kuratorin Bianca Martin erzählt: Die meisten Puppenstub­en und Kaufläden wurden in der damaligen DDR für den Klassenfei­nd im Westen gefertigt – mit Gegenständ­en und Möbeln, die im Osten als bourgeois gebrandmar­kt waren. Auch im geteilten Deutschlan­d blieben die traditione­llen Spielwaren­hersteller eben in Thüringen und im Erzgebirge beheimatet.

Und heute? Puppenstub­en und Kaufläden aus Holz – so sie nicht in der Familie weitegeben werden – gibt es nicht mehr viele im Handel. Der Spielzeugh­ersteller Playmobil dominiert heute die Sparte. Burghard Zorn, Inhaber des gleichnami­gen Spielwaren­geschäfts in Leutkirch, bedauert das zwar, rechnet aber vor: „Ein Puppenhaus aus Holz in der Qualität von früher würde heute 1000 Euro kosten.“Da greifen viele Eltern doch lieber zum bunteren, mehrstöcki­gen Einfamilie­nhaus aus Plastik mit kompletter Einrichtun­g – für ein Zehntel des Preises. Von liebevoll gefertigte­n Details mag man hier weniger spüren, Freude am Rollenspie­l werden die Kinder dennoch haben. Und leisten kann sich eine Playmobil-Packung so gut wie jede Familie, während Spielzeug früher ein Privileg der Oberschich­t war. Licht und Schatten also. Immer noch gilt: Das Spielzeug der Kinder ist ein Spiegel der Gesellscha­ft – im Guten wie im Schlechten.

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FOTO: WYNRICH ZLOMKE/MUSEUM HAGNAU Kaisertreu­e war Ende des 19. Jahrhunder­ts angesagt, die Herren tragen Uniform, und links im Regal steht ein Porträt des Herrschers.
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FOTO: WIRTSCHAFT­SWUNDERMUS­EUM Es geht bergauf: ein Kaufladen aus den 1960er-Jahren, gefüllt mit Ata und Fondor.
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FOTOS: KAWA/HEIMATMUSE­UM Die bäuerliche Puppenküch­e um 1950 ist selbst gezimmert. Die Außentoile­tte hingegen zeugt vom Reichtum der Bessergest­ellten.
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