Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Die Unbehaustheit sitzt im Kopf
Mehrheit der Obdachlosen leidet an psychischen Krankheiten – Urban Hansen behandelt sie in den Unterkünften
Von Harald Ruppert
GFRIEDRICHSHAFEN - Weihnachten ist für die meisten das Fest der familiären Geborgenheit. Zugleich schildert die Bibel in der Weihnachtsgeschichte freilich eine im Werden begriffene Familie, die kein Obdach finden: Josef und die schwangere Maria. Diese Unbehaustheit des Paares liegt notgedrungen nahe, wenn in den Obdachlosenunterkünften in Friedrichshafen Weihnachten gefeiert wird. Sie soll möglichst überwunden werden, und damit das Gefühl der Ausgeschlossenheit von der Gesellschaft. Deshalb wird auch hier gemeinsam Weihnachten gefeiert. In der Notunterkunft K7 fand bereits am 19. Dezember für die Bewohner, die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen ein gemeinsames Festessen statt – mit einem Weihnachtsliedersingen als Abschluss. In der Herberge im Industrieweg findet das Festessen heute statt, an Heiligabend. Dabei spielt ein Bläserquartett aus Daisendorf weihnachtliche Weisen. Aber nicht alle Bewohner nehmen an dieser Feier teil. „Manche Bewohner können Weihnachten bei Bekannten oder ihrer Familie verbringen“, sagt Stefan Zorell, der Leiter der Herberge. „Andere bleiben dagegen in ihrem Zimmer oder gehen weg. Sie ertragen Weihnachten nicht oder werden an Zeiten erinnert, die nicht mehr sind. Das ist oft eine schwierige Situation.“
Geborgenheit fehlt vielen Wohnungslosen aber nicht nur zu Weihnachten und auch nicht nur, was die äußeren Lebensumstände angeht. Die Unbehaustheit sitzt im Kopf. Denn 75 bis 90 Prozent der Wohnungslosen leiden laut Studien unter psychischen Krankheiten. Niedriger wird dieser Prozentsatz auch in Friedrichshafen nicht sein, glaubt Urban Hansen, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bodensee. Er kennt zahlreiche Wohnungslose, denn er behandelt sie. Und dabei geht er neue Wege. Er sucht sie dort auf, wo sie sich aufhalten: in der Herberge und im K7. Jede Woche besucht er die beiden Unterkünfte im Wechsel und bietet seine zweistündige Sprechstunde an, gemeinsam mit einer Psychiatriekrankenschwester.
Der Weg zum Psychiater fällt vielen nicht leicht. „Viele haben Bindungsstörungen. Sie sind misstrauisch und können sich nur schwer darauf einlassen, Hilfe anzunehmen“, sagt er. Hinzukomme das Stigma, mit dem psychische Krankheiten in der Gesellschaft immer noch besetzt seien. „Manche der Wohnungslosen sagen: Ich habe schon alles verloren, ich will nicht auch noch als psychisch krank gelten“, sagt Urban Hansen. Ob eine psychische Krankheit nun die Ursache oder die Folge für den Abstieg in die Wohnungslosigkeit sei, lasse sich oft nicht klären. Wer aber bereits psychisch krank sei, dessen Krankheit verstärke sich in der Wohnungslosigkeit weiter. „Die Menschen geraten in ein Milieu, in dem massiv getrunken wird, wo Drogen konsumiert werden und man ihnen diese Drogen auch aufdrängt. Sie sind konfrontiert mit Gewalt, mit einem Umfeld, in dem es extreme psychische Auffälligkeiten und Aggressionen gibt“, sagt Urban Hansen.
Er lernt diejenigen kennen, die sich unter solchen Lebensumständen nicht aufgeben, die es in seine
Sprechstunde schaffen – und sei es erst auch nur, weil Streetworker oder Sozialarbeiter ihnen raten, sich den Hansen mal anzusehen, „weil man mit dem reden kann“. Manchmal stehen sechs Wohnungslose vor dem Sprechzimmer, mal gar keiner. Aber etwa drei Viertel derjenigen, die ihn aufsuchten, seien zu einer weiteren Behandlung bereit, sagt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Viele davon litten seit Jahrzehnten unter psychischen Krankheiten, die nie richtig behandelt wurden, erklärt Hansen. Sie hätten den Weg in die Therapie schlichtweg nie gefunden oder sich eigentlich notwendigen Behandlungen immer wieder entzogen.
Die Krankheitsbilder sind vielfältig, weiß Urban Hansen – neben Suchterkrankungen etwa Schizophrenie oder ADHS. Selten liege nur ein einziges Krankheitsbild vor. Wie gravierend eine psychische Störung ein Leben beeinflussen kann, schildert Urban Hansen am Beispiel von Mathias, einer seiner wohnungslosen Klienten aus Friedrichshafen. Mathias ist immer auf Wanderschaft, er schläft auf Hochsitzen, in Unterständen oder offenen Blockhütten. Er kann sich schlecht konzentrieren, kann nicht stillsitzen. Wenn er tagsüber nicht 15 Kilometer marschiert, liegt er nachts wach. Im eigenen Elternhaus hat er viel Gewalt erfahren müssen, und früh lernte Mathias, dass sein Heil in der Flucht liegt. So hält er es bis heute. Und erst heute, als längst Erwachsener, wird seine eigene psychische Grunderkrankung diagnostiziert: ADHS. „Wäre dieser Mann früher behandelt worden, hätte er ein anderes Leben führen können“, sagt Urban Hansen, der Mathias Medikamente verschrieb. „Er kann jetzt auch mal still dasitzen und ein Buch lesen und geordnet Zukunftspläne machen“, sagt Hansen.
Menschen fallen heute schneller aus den Haltestricken des normalen
Lebens, glaubt Hansen. Das sei eine Folge der Individualisierung, der sich lockernden sozialen Beziehungen. Er sieht aber auch beim therapeutischen Apparat selbst ein Problem: „Der Fürsorgeaspekt tritt immer mehr in den Hintergrund“, kritisiert er. Während einer akuten Phase würden Patienten in psychiatrischen Kliniken auf Druck der Krankenkassen immer kürzer behandelt. Nach der Entlassung werde die Verantwortung für die weitere Behandlung dann aber auf die Patienten selbst abgewälzt. Die weiteren ambulanten Behandlungsmöglichkeiten würden zwar aufgezeigt, aber viele Patienten fielen an dieser Stelle durchs Raster: „Sie sind noch nicht bereit, die angezeigten Versorgungsangebote in Anspruch zu nehmen. Diese müssen zudem erst aufwändig organisiert werden“, sagt er. Dazu sei schlichtweg mehr Zeit notwendig als das Gesundheitssystem zur Verfügung stelle.
Urban Hansens Sprechstunde in der Herberge und im K7 ist auch ein Versuch, diesen Sturz psychisch kranker Obdachloser durch die Raster der Behandlung zu verhindern. Am Ziel sieht er sich damit noch nicht. „Die meisten, die in den Unterkünften auflaufen und psychiatrische Hilfe benötigen, kommen bislang nicht in die Sprechstunde“, sagt er. „Obwohl sie es sollten.“