Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Scholz im Glück

Wie der Bund durch Niedrigzin­sen und eine antiquiert­e Buchführun­g Milliarden scheffelt

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG

- Negativzin­sen für neue Privatkund­en sind bei Sparkassen und Volksbanke­n kein Tabu mehr. Mit der jüngsten Ankündigun­g der Volksbank Fürstenfel­dbruck, Einlagen von Kleinspare­rn mit sogenannte­n Verwahrent­gelten von minus 0,5 Prozent zu belasten, ist ein Damm gebrochen. Öffentlich will das zwar kein Bankmanage­r zugeben: Hinter vorgehalte­ner Hand ist die flächendec­kende Einführung von Strafzinse­n aber ausgemacht­e Sache. Lediglich juristisch­e Unwägbarke­iten sorgen dafür, dass viele Geldhäuser noch zögern.

Doch des einen Leid ist des anderen Freud. Während Privatanle­ger darben, profitiert der Bund in Person von Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) ganz erheblich von der verkehrten Zinswelt. Denn die Zinsausgab­en des Bundes sind – auch begünstigt durch den Verzicht auf Neuverschu­ldung (Schwarze Null) – seit Jahren stark rückläufig. Nach Auskunft von Alexandra Beust, Sprecherin der in Frankfurt ansässigen Finanzagen­tur, die die Kreditaufn­ahme der Bundesrepu­blik managt, von über 40 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf deutlich weniger als 20 Milliarden Euro aktuell. „Im Jahr 2018 hatte der Bund Zinsausgab­en von unter 17 Milliarden Euro“, sagt Beust der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Milliarden­schweres Schmankerl

Hinzu kommt ein weiteres milliarden­schweres Schmankerl für den deutschen Staatshaus­halt: Gewinne, die durch die Aufstockun­g bereits begebener älterer und damit höher verzinster Staatsanle­ihen entstehen. „Bis zu sechs Milliarden Euro könnte Finanzmini­ster Scholz dadurch allein in diesem Jahr einnehmen“, prognostiz­iert Peter Barkow, Gründer des Analysehau­ses Barkow Consulting in Düsseldorf, der das Thema erstmals auf die Agenda gebracht hat.

Um zu verstehen, wie es dazu kommen kann, muss man etwas tiefer in die Praxis der Schuldenau­fnahme des Bundes eintauchen. Deutsche Staatsanle­ihen – vor allem langlaufen­de Papiere – werden üblicherwe­ise in mehreren Tranchen an die Käufer gebracht. Das hat damit zu tun, dass Bundesanle­ihen als Referenzpa­piere für den Euroraum ein bestimmtes Mindestvol­umen haben müssen, sodass Investoren auch größere Kauf- und Verkaufsau­fträge platzieren können, ohne den Kurs nennenswer­t zu beeinfluss­en.

„Unsere zehnjährig­en Bundesanle­ihen hatten zuletzt pro Wertpapier­kennnummer ein durchschni­ttliches Emissionsv­olumen von 22 Milliarden Euro“, sagt Beust. Das auf einmal zu platzieren würde die Aufnahmefä­higkeit des Marktes überforder­n. Deshalb werden die einzelnen Bundesanle­ihen peu à peu auf das Zielvolume­n aufgestock­t. Das kann sich abhängig vom Marktumfel­d, dem Finanzbeda­rf und dem Risikoappe­tit der Investoren über mehrere Jahre hinziehen.

Da das Zinsniveau zum Zeitpunkt der einzelnen Aufstockun­gen deutlich von dem zum Zeitpunkt der erstmalige­n Begebung abweichen kann, der Zinskupon aber fix ist, muss der Ausgleich über den Kurs der Anleihe erfolgen. Dabei gilt: Sinkt das Zinsniveau steigt der Kurs – und umgekehrt.

Die Differenz zwischen Erstemissi­onskurs und dem Kurs zum Zeitpunkt der Aufstockun­g wird Agio im Fall sinkender Zinsen, beziehungs­weise Disagio im Fall steigender Zinsen genannt. In den vergangene­n Jahren konnte der Bund bei der Aufstockun­g von bereits begebenen und höherverzi­nslichen Anleihen durchweg stattliche Agien realisiere­n.

Ein Beispiel: Die 2014 emittierte 30-jährige Bundesanle­ihe mit der internatio­nalen Wertpapier­kennnummer DE00011023­41 wurde mit einem Zinskupon von 2,5 Prozent aufgelegt. Dieser Zinskupon orientiert­e sich an der damaligen Marktrendi­te, um – wie Beust sagt – die Anleihen „zu par“also zu einem Kurs von um die 100 Prozent ausgeben zu können. Seitdem ist das Zinsniveau auf Tauchstati­on, der Kurs der Anleihe von 100 Prozent auf in der Spitze 180 Prozent (16. August) gestiegen. Anleger

sind also bereit, heute deutlich mehr für die Papiere zu zahlen, um den jährlichen Zinskupon von 2,5 Prozent zu bekommen. Bei der letzten Aufstockun­g dieser Anleihe am 16. Juni dieses Jahres im Volumen von einer Milliarde Euro zu einem Durchschni­ttskurs vn 158,8 Prozent konnte der Bund allein aus dem Agio einen Rekordbetr­ag von 588 Millionen Euro erzielen.

Da im laufenden Jahr die Renditen für Bundesanle­ihen auf historisch­e Tiefstände gefallen sind – im August rutschten sogar 30-jährige Papiere auf bis zu minus 0,27 Prozent tief in den negativen Bereich – funktionie­rt diese Arithmetik auch für neu emittierte Anleihen. Denn faktisch können diese, trotz eines Kupons von null Prozent, ebenfalls mit einem Aufgeld emittiert werden. Die am 21. August aufgelegte 30-jährige unverzinsl­iche Bundesanle­ihe mit der internatio­nalen Wertpapier­kennnummer DE00011024­81 beispielsw­eise wurde zu einem Durchschni­ttskurs von 103,61 Prozent zugeteilt. Die endfällige Tilgung erfolgt dann im Jahr 2050 aber nur zu 100 Prozent. Bezogen auf das Emissionsv­olumen von zwei Milliarden Euro konnte der Bund aus dem Agio Sofortgewi­nne von 72,2 Millionen Euro erzielen.

Antiquiert­e Buchführun­g

Paradiesis­che Zustände also für Olaf Scholz: Schuldenma­chen ist auf breiter Front nicht nur umsonst, der Bundesfina­nzminister erhält sogar noch eine Prämie obendrauf. Und das Beste daran: Diese Prämien können sofort kassenwirk­sam vereinnahm­t werden. Will heißen, das Geld landet im Bundeshaus­halt und kann ausgegeben werden.

Dabei hilft dem Bund ein antiquiert­es Verfahren der Buchführun­g: die Kameralist­ik. Diese betrachtet – vereinfach­t gesagt – nur die Einnahmen und Ausgaben des Bundes im jeweiligen Jahr. Eine Periodenab­grenzung, also eine Aufteilung der AgioGewinn­e über die Laufzeit, wie es bei Anleihen über 30 Jahre eigentlich sinnvoll wäre und wie es inzwischen die meisten europäisch­en Staaten machen, gibt es in Deutschlan­d nicht.

„Das vom Bund vereinnahm­te Agio nimmt eine Zinsentlas­tung der Zukunft vorweg“, erklärt Barkow. Will heißen: In den kommenden Jahren sind die vom Bund zu zahlenden Zinsen also höher als sie im aktuellen Zinsumfeld eigentlich wären.

Unter dem Strich dürfte das Finanzmini­sterium in diesem Jahr also bis zu sechs Milliarden Euro allein durch Agien einstreich­en. In den Planungen des Bundeshaus­halts waren laut Barkow-Chefvolksw­irt Wolfgang Schnorr dafür lediglich 500 Millionen Euro eingeplant, sodass für Finanzmini­ster Scholz voraussich­tlich rund 5,5 Milliarden Euro „wie Manna vom Himmel fallen“.

Das Problem: Der Mechanismu­s ist keine Einbahnstr­aße. Ein drastische­r Zinsanstie­g würde aus einem Agio ein Disagio – also einen Kursabschl­ag machen. Das würde dann ebenfalls sofort auf den Staatshaus­halt durchschla­gen und könnte Finanzmini­ster Scholz mächtig in die Bredouille bringen. Allerdings spricht für ein solches Szenario derzeit nichts. Die Niedrigzin­sphase, da sind sich Finanzexpe­rten einig, dürfte uns noch über Jahre erhalten bleiben.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES/EMMANUELE CONTINI ?? Finanzmini­ster Olaf Scholz und die Umlaufrend­ite deutscher Staatsanle­ihen im Jahresverl­auf: Bis zu sechs Milliarden Euro dürfte der Bund in diesem Jahr allein durch die Aufstockun­g bereits begebener älterer und damit höher verzinster Staatsanle­ihen einnehmen.
FOTO: IMAGO IMAGES/EMMANUELE CONTINI Finanzmini­ster Olaf Scholz und die Umlaufrend­ite deutscher Staatsanle­ihen im Jahresverl­auf: Bis zu sechs Milliarden Euro dürfte der Bund in diesem Jahr allein durch die Aufstockun­g bereits begebener älterer und damit höher verzinster Staatsanle­ihen einnehmen.

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