Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Kein offenes Ohr für Patienten
Warum die offenen Sprechstunden der Fachärzte kaum bekannt sind.
FRIEDRICHSHAFEN - Die Geschichte von Herta Ulbricht handelt von der verzweifelten Suche nach einem Hautarzt, deren Überlastung und offenen Sprechstunden, von denen kaum jemand weiß. Sie handelt aber auch von einer kassenärztlichen Vereinigung, die in Erklärungsnot gerät, wenn es um die Einhaltung des dazugehörigen Gesetzes geht.
Die Geschichte beginnt Mitte November. Als Herta Ulbricht aufwacht, traut Sie ihren Augen nicht. Ihr kompletter Körper ist von Pusteln übersät. Arme und Beine sind angeschwollen. „Selbst Berührungen durch ein T-Shirt haben Schmerzwellen im ganzen Körper ausgelöst“, erzählt die Zahnarztwitwe. Sie wendet sich an ihren Hautarzt, zu dem sie auch jedes halbe Jahr zur Kontrolluntersuchung geht. „Da wurde mir gesagt, dass der früheste Termin im März sei.“
Dass bestimmte Fachärzte enorm ausgelastet sind, ist nichts Neues. Legt man die aktuellsten Zahlen der Landesärztekammer von 2018 zugrunde, kamen im vergangenen Jahr auf einen Hautarzt in Baden-Württemberg über 14 000 Einwohner. Bei Augen- oder Hals-Nasen-Ohrenärzten sind die Zahlen nicht viel besser. Kein Wunder also, dass Patienten manchmal monatelang auf einen Termin warten müssen.
Für Ulbricht ist eine solche Wartezeit ausgeschlossen. „Ich sah aus wie ein Streuselkuchen und wusste gar nicht, was mit mir passiert.“Die 75-Jährige gerät in Panik. Über Google sucht sie sich die Nummern aller Hautärzte in Friedrichshafen heraus und beginnt, sie der Reihe nach abzutelefonieren. Einen schnellen Termin bekommt sie nirgends, erzählt sie.
In ihrer Not will sie einfach nur eine rasche Untersuchung durch einen Spezialisten. „Ich war schließlich verkrustet bis an die Fingerspitzen.“
Offenbar hat auch das Bundesgesundheitsministerium erkannt, dass sogar mithilfe der Terminservicestellen Menschen mit dringendem Behandlungsbedarf durch das Raster fallen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ordnete schon 2018 eine Nachbesserung des Terminserviceund Versorgungsgesetzes (TSVG) an – mit Erfolg.
Grundversorgende Krankenkassen-Fachärzte sind seit September verpflichtet, fünf offene Sprechstunden
pro Woche anzubieten. Darunter fallen unter anderem Neurologen, Psychiater, Frauen-, Augen-, HNOund auch Hautärzte. Jeder kann zu ihren offenen Sprechstunden in die Praxis marschieren und wird, wenn es die Zeit zulässt, behandelt. Ohne Termin, Überweisung oder Nachweis eines Notfalls durch den Hausarzt.
Die KVBW hat ihre Kassenärzte ausführlich über die Pflicht dieses Angebots informiert – die Patienten nicht. „In der nächsten Ausgabe unseres ,G.sund’-Magazins soll das aber nachgeholt werden“, teilt die Pressestelle der KVBW mit.
Auch Ulbricht weiß nichts von den offenen Sprechstunden, als sie die Liste der Hautärzte abtelefoniert. Sie kommt jedoch auf eine ähnliche Idee. „Ich habe angeboten, mich solange ins Wartezimmer zu setzen, bis vielleicht zwischendrin ein Termin frei wird.“Das hätten aber alle Praxen abgelehnt. „Über das Angebot der offenen Sprechstunden hat mich im Gegenzug kein einziger informiert.“
Das müssen die Fachärzte auch nicht. Aber die KVBW ist laut Paragraph 17 des Bundesmantelvertrags gesetzlich dazu verpflichtet. Sie muss über die genauen Zeiten der offenen Sprechstunden der Fachärzte Auskunft geben. Die KVBW tut das über die Ärztesuche-Funktion auf der eigenen Homepage.
Ulbricht stößt bei ihrer GoogleRecherche zu Hautärzten nicht auf das Angebot der KVBW und begibt sich schließlich zu ihrem Hausarzt. Der möchte in der Zeitung nicht namentlich genannt werden, beschreibt den damaligen Zustand von Ulbricht aber wie folgt: „Das sah schon schlimm aus.“
Ulbrichts Hausarzt kennt das Angebot der offenen Sprechstunde und die Möglichkeit, sie über die Homepage der KVBW einzusehen. Bei seinen Patienten sehe das jedoch anders aus. „Das weiß keiner, das ist auch viel zu abstrakt.“Das gelte gerade für ältere Menschen.
Und selbst diejenigen, die sich mit der digitalen Ärztesuche der KVBW über die Zeiten der offenen Sprechstunden informieren möchten, könnten eine böse Überraschung erleben. Denn auf der Website sind keinesfalls alle Zeiten veröffentlicht. Obwohl das Gesetz die KVBW dazu verpflichtet.
Der KVBW liegen laut eigenen Angaben die offenen Sprechstundenzeiten
der Fachärzte im Bodenseekreis zu einem großen Teil vor. Warum sind sie dann beispielsweise bei 50 Prozent der Hautarztpraxen im Bodenseekreis noch nicht einsehbar? „Wir können diese Frage nicht beantworten“, sagt die Pressestelle der KVBW.
Verstößt die Vereinigung damit gegen geltende Gesetze? „Das kann man so auslegen“, erklärt die Pressestelle des Bundesgesundheitsministeriums. Sie verweist aber auch darauf, dass den Fachärzten und den Kassenärztlichen Vereinigungen eine Frist zur Umsetzung des Gesetzes zugestanden werden sollte. Im betreffenden Paragraph 17 des Bundesmantelvertrags der Ärzte sind solche Fristen allerdings nicht festgehalten.
Einer der Hautärzte, dessen offene Sprechzeiten bei der KVBW nicht einsehbar sind, ist Dr. Martin Braun. Er betreibt eine Praxis in Überlingen. „Wir haben fünf offene Sprechstunden in der Woche und das teilen wir den Patienten auch am Telefon mit.“Die genauen Zeiten der offenen Sprechstunden auf der eigenen Webseite zu veröffentlichen, sei nicht möglich, da sich die genauen Termin von Woche zu Woche ändern.
Braun hält wenig von den verpflichtenden offenen Sprechstunden. Er sieht dahinter den Aktionismus eines Gesundheitsministers, der politische Karriere in der CDU machen will. „Das ist eine Einmischung in unsere Selbstständigkeit und hat keinen nachvollziehbaren Nutzen“, fährt Braun fort. „Letztendlich arbeiten wir schon jetzt erheblich mehr als 40 Stunden in der Woche, und es allen recht zu machen, ist ohnehin unmöglich.“Viele Fachärzte argumentieren, dass die Zeit in der offenen Sprechstunde dann wieder für Patienten mit nachgewiesenen Notfällen fehle.
„Natürlich sind die Fachärzte überlaufen und müssen auch immer wieder Notfälle behandeln, die keine sind“, zeigt auch Herta Ulbricht Verständnis. Ihre Erkrankung bekommt sie dennoch nur mithilfe ihres Hausarztes in den Griff. Der heftige Ausschlag stellt sich als allergische Reaktion auf ein Cholesterin senkendes Mittel heraus. Trotzdem will Ulbricht nun eine offizielle Patientenbeschwerde wegen ihrer FacharztOdyssee beim Service Portal der Kommunen und des Landes BadenWürttemberg einreichen. Momentan hat die 75-Jährige jedenfalls von Ärzten „Die Schnauze voll“.