Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Eine wohltuende halbe Stunde
SZ-Redakteur Harald Ruppert liest bei der „literarisch-musikalischen Weihnacht“
Von Wilfried Geiselhart
GFRIEDRICHSHAFEN - 11.30 Uhr. Eine eher ungewöhnliche Zeit für einen Kirchenbesuch an Heiligabend. Und doch haben auch in diesem Jahr wieder erstaunlich viele Menschen bewusst eine gute halbe Stunde für die „literarisch-musikalische Weihnacht“in St. Nikolaus Zeit genommen, um vor dem großen Festtagstrubel noch einmal ein wenig zur Ruhe zu kommen.
Diesmal nimmt Harald Ruppert am kleinen, vor den Altarstufen stehenden Tisch Platz, der mit einer schlichten Kerze geschmückt ist. Von „vertauschten Rollen“und von „großen Fußstapfen“, in die es zu treten gelte, spricht der Redakteur der „Schwäbischen Zeitung“gleich zu Beginn und berichtet davon, dass er vor Jahren zum gleichen Anlass als Rezensent in den Kirchenbänken saß und den Worten von Kurt Drechsel lauschte.
Kantor Nikolai Gersak setzt an der Orgel ein. Einfühlsame und leise Klänge. Ebenso einfühlsam wie die Texte, die Harald Ruppert gewählt hat. Nachdenkliche Texte, in denen es um Kindheitserinnerungen geht, das Bewusstwerden der eigenen Vergänglichkeit, auch um weihnachtliche Gefühle im besten Sinne. Nichts allzu Süßliches, aber viel Berührendes. Zum Beispiel Erich Kästner. „Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag. Dann dröhnt das Erz und spricht: Das Jahr kennt seinen letzten Tag, und du kennst deinen nicht“, endet der „Dezember“aus seinem Gedichtzyklus „Die 13 Monate“. Und im kleinen Gedicht von Joachim Ringelnatz,
das Harald Ruppert folgen lässt, wird der Blick aufs richtige Schenken gelegt: „Schenke mit Geist ohne List. Sei eingedenk, dass dein Geschenk du selber bist.“
Unaufgeregt liest der Redakteur auch aus dem Tagebuch des französischen Schriftstellers Paul Léautaud, der an Heiligabend des Jahres 1947 melancholisch konstatieren muss, dass er „wirklich Glück“hat, weil er von einer Dame ein Weihnachtspräsent mit Champagner, Hähnchen, Pastete, kandierten Früchten und Nougat bekommen hat – Dinge, mit denen er so gar nichts anzufangen weiß.
Auch zum innerlichen Schmunzeln und zum Verdrücken der einen oder anderen Tränen lädt die Geschichte
vom „Weihnachtsgeschenk“des fast vergessenen amerikanischen Schriftstellers O. Henry ein, der vom Weihnachtsfest eines in ärmlichsten Verhältnissen lebenden Liebespaars erzählt, bei dem irgendwie alles schiefläuft – und letztlich doch alles gut geht. „Ich weiß nicht, ob der Himmel niederkniet, wenn man zu schwach ist, um hinauszukommen“, fragt sich die Österreicherin Christine Lavant in ihrem Gedichtband „Die Bettlerschale“. „Eine leidgeprüfte Frau, die für Geschichten stand, die weh tun und doch Trost spenden“, wie Harald Ruppert erläutert.
Dann spricht der Redakteur noch über sein ganz persönliches Weihnachtswunder und erzählt von einem obdachlosen Kater, den seine Frau und er seit fünf Jahren durchfüttern. Eine bedauerliche, unnahbare Jammergestalt, die nur kommt, um ihr Fressen abzuholen, und nach der Mahlzeit gerne an die Hauswand pinkelt. Und plötzlich: Das Unfassbare geschieht. Der vermeintliche Einzelgänger wird anschmiegsam, streicht um die Beine, lässt sich gar den Bauch kraulen – fasst also offenbar Vertrauen und sucht Nähe.
Es wäre doch schön, wenn sich die Dinge auch zwischen Menschen so entwickeln würden“, sagt Harald Ruppert. Nikolai Gersak spielt ein zartes „Gloria sei dir gesungen.“Wie bestellt schlagen die 12-Uhr-Glocken der Nikolauskirche. Die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium beschließt die literarisch-musikalische Weihnacht. Dankbarer Applaus für eine wohltuende halbe Stunde.