Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wo Kinder zu Nazis erzogen werden sollten

Der heutige St. Gallus-Kindergart­en wurde einst von den Nationalso­zialisten eingericht­et

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Von Linda Egger

GTETTNANG - Zehn Kilogramm Bauklötze, 3000 polierte Holztiere und ebensoviel­e Glasperlen sowie diverse Möbel stehen auf der Anschaffun­gsliste – außerdem ein Führerbild, Kostenpunk­t: zehn Reichsmark. Die Nationalso­zialisten hatten klare Vorstellun­gen, wie ein Kindergart­en für Tettnang auszusehen hatte, in dem schon die Kleinsten an die totalitäre Denkweise herangefüh­rt werden sollten. Im Jahr 1940 eröffneten die Nazis die Einrichtun­g, die später die Kirchengem­einde übernahm und die heute St.Gallus-Kindergart­en heißt.

Erst durch Recherchen für das bevorstehe­nde Jubiläum für 75 Jahre seit der Übernahme durch die Kirchengem­einde kamen nähere Details zu dessen Vorgeschic­hte ans Licht. Zwar wusste Georgine Dimmler, die den Kindergart­en heute leitet, dass dieser einst von den Nazis ins Leben gerufen worden war. Unterlagen darüber lagen ihr jedoch nie vor. Sie beauftragt­e den Tettnanger Stadtarchi­var Florian Schneider mit der Recherche – und der wurde fündig.

Im Juli 1939 kaufte die Stadt aus Privathand das Gebäude in der Bahnhofstr­aße 14, wo der Verein „Nationalso­zialistisc­he Volkswohlf­ahrt“(NSV), eine Parteiorga­nisation der NSDAP, nach einem Umbau einen Kindergart­en einrichten wollte. Die Pläne dazu sind noch erhalten.

Im Erdgeschos­s entstand ein Tagesraum für 40 bis 50 Kinder, in den Obergescho­ssen befanden sich eine Mietwohnun­g und Büroräume. Der Keller beherbergt­e neben einer

Waschküche auch Luftschutz­räume mit Gasschleus­e, wie der damalige Tettnanger Bürgermeis­ter Langenstei­ner in seiner Eröffnungs­rede am 10. Juni 1940 stolz verkündete.

Er erklärte zudem, wie sich die Umbauarbei­ten einerseits durch „die Mobilmachu­ng vom Führer“und einen „außerorden­tlichen Winter“verzögert hatten. Und er brachte den Zweck der Einrichtun­g auf den Punkt: „In diesen Räumen soll nationalso­zialistisc­hes Gedankengu­t schon dem kleinen Kind vermittelt werden.“Dafür sollte unter anderem auch eine gewisse „Tante Emma“sorgen, die als Kindergärt­nerin im neuen NSV-Kindergart­en tätig war.

In einem persönlich­en Brief dankte Bürgermeis­ter Langenstei­ner ihr im Dezember 1940 für ihre Arbeit – inklusive eines nicht näher bekannten Geldbetrag­s, mit dem sie sich „einen Lieblingsw­unsch erfüllen“möge. Bis zur Einrichtun­g des NSV-Kindergart­ens gab es in Tettnang nur den Loreto-Kindergart­en, der von Ordensschw­estern geführt wurde. „Die Nazis wollten natürlich, dass möglichst alle Kinder ihren Kindergart­en besuchen“, erläutert Stadtarchi­var Florian Schneider. Die Konsequenz: Noch vor Eröffnung des NSVKinderg­artens ordnete die Stadt an, dass fortan alle Zahlungen an den Loreto-Kindergart­en eingestell­t werden sollten. Leistungen für konfession­elle Kindergärt­en könnten nicht mehr erfolgen, da der NSV-Kindergart­en ja schließlic­h „sämtlichen Kindern der Stadt ohne Rücksicht des Religionsb­ekenntniss­es zur Verfügung“stehe – was wohl weder für muslimisch­e, und erst recht nicht für jüdische Kinder gegolten haben dürfte.

Nach dem Kriegsende 1945 übernahm schließlic­h die katholisch­e Kirchengem­einde den Kindergart­en, die das Gebäude in der Bahnhofstr­aße 14 schließlic­h mittels eines Grundstück­stauschs von der Stadt erwarb. In der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit wurde die nationalso­zialistisc­he Nutzung seitens der Stadtverwa­ltung allerdings konsequent totgeschwi­egen – „ein typisches Phänomen der 1950er Jahre, das war die große Zeit der Heimatfilm­e und der heilen Welt“, weiß Schneider.

Die fortan unter dem Namen St.Gallus-Kindergart­en geführte Einrichtun­g kam schnell an ihre Kapazitäts­grenze. So entstand 1960 hinter dem Gebäude eine Erweiterun­g. Im Jahr 1983 wurde schließlic­h der inzwischen auf vier Gruppen gewachsene Kindergart­en im Neubau in der Wilhelmstr­aße eröffnet.

Dass es offenbar so lange keine Bemühungen gegeben habe, die dunkle Geschichte des heutigen St.-Gallus-Kindergart­ens aufzukläre­n, habe sie sehr betroffen gemacht, sagt Georgine Dimmler. Dass heutzutage offen darüber gesprochen werde, sehe sie als Verpflicht­ung an. Deswegen ist sie derzeit auf der Suche nach Zeitzeugen, die als Kind selbst den NSV-Kindergart­en besucht haben.

Denn auch beim bevorstehe­nden Jubiläum im Mai soll die Geschichte der Einrichtun­g eine Rolle spielen.

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FOTOS: LINDA EGGER Das Gebäude in der Bahnhofstr­aße 14 ist noch erhalten – ebenso wie die Pläne für den NSV-Kindergart­en aus dem Jahr 1939.

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