Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
TikTok: China-App im Kinderzimmer
Die derzeit beliebteste App für Jugendliche unterliegt Spielregeln aus Peking
BERLIN - Vielen Eltern ist ein Rätsel, was ihre Teenager die ganze Zeit kichernd mit ihren Handys machen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich unter ihren Lieblings-Apps die Anwendung TikTok befindet. Schließlich liegt diese bei den Download-Zahlen und Nutzungszeit derzeit weltweit auf einem Spitzenplatz. Der Blick über die Schulter zeigt: Auf dem Bildschirm hampeln vor allem andere Jugendliche in kurzen Clips; oftmals explodiert das Bild geradezu vor Trickeffekten.
Die Sache sieht harmlos aus, und sie ist es grundsätzlich auch. Doch die App rückt mehr und mehr ins Zentrum einer Kontroverse um die Herkunft und die langfristigen Nutzungsfolgen von Digitaldiensten. Denn TikTok ist ein Angebot aus China. Die Betreiberfirma, das Unternehmen Bytedance aus Peking, sammelt eifrig Daten über ihre jungen Fans rund um den Globus. Außerdem zensiert sie Inhalte entsprechend der Vorgaben des chinesischen Staates.
Für die Kids, die mit der App herumspielen, entsteht dadurch keine akute Gefahr. Die Frage eines Verbots wäre in den meisten Familien ohnehin nur theoretisch verhandelbar und in der Praxis so gut wie ausgeschlossen. TikTok gehört fest zum Lebensgefühl der unter 20-Jährigen dazu. In etwas weniger als drei Jahren wurde die App weltweit mehr als 1,5 Milliarden mal heruntergeladen. Ein Großteil dieser Zahl entfällt auf bevölkerungsreiche Länder wie China, Indien oder Indonesien. Doch auch in Deutschland zählt die Anwendung 5,5 Millionen Nutzerinnen und Nutzer. Allein im Laufe des Jahres 2019 kam hierzulande eine runde Million dazu. Die Mädchen und Jungen verbringen im Schnitt pro Tag eine knappe Stunde mit dem Programm.
Es handelt sich damit um eines der derzeit am aktivsten genutzten Softwareprodukte auf dem Markt. Im deutschen Ranking des Google Playstore liegt TikTok derzeit auf Platz 1 vor der App der Drogeriekette DM, Instagram und Netflix. TikTok trifft also eindeutig einen Nerv. Twitter ist für Fachleute, Facebook ist für Opas, Instagram ist für junge Erwachsene – aber TikTok wendet sich wirklich an Jugendliche.
Die App erlaubt eine Mischung aus eigenem kreativen Ausdruck und einer großen Musikbibliothek, um selbsterstellte Videos völlig legal mit aktuellen Songs zu unterlegen. Der ursprüngliche Gedanke war, zur Musik zu singen und zu tanzen, um eigene kleine Musikvideos zu machen. Daraus wurde jedoch viel mehr. Die Anwender führen sich Sportkunststücke vor, und viele machen richtige Trickfilme, in die sie zum Teil enorme Arbeit stecken. Wenn das Ergebnis sich sehen lassen kann, folgt die Belohnung in Form von positiven Kommentaren und einem Anstieg der Zahl von Followern. Viele der Clips sind sehr witzig.
Die Eltern haben dabei grundsätzlich nicht mehr zu befürchten als auf anderen Sozialmedien auch. Die automatisierten und menschlichen Zensoren sorgen dafür, dass schmuddelige Inhalte oder Gewalt weitgehend unsichtbar bleiben. Manchmal mag sich doch etwas an den Filtern vorbeimogeln, doch wer nicht sehr aktiv danach sucht, wird kaum damit konfrontiert sein. Auch digitales Mobbing gilt immer wieder als Thema, doch dieses Problem gibt es auch bei anderen Internetanwendungen. Die Kontroverse um die App spielt sich daher auch vor allem unter Fachleuten ab.
Eine deutliche Warnung vor den Gefahren einer Anwendung, in die Milliarden von Kindern Videos von sich hochladen, kam kurz vor Weihnachten. Sicherheitsexperten aus Israel hatten herausgefunden, dass die
Trennung, wer welche Inhalte sehen kann, zuweilen nicht funktioniert. Denn Videos lassen sich in TikTok auch ausschließlich an enge Freunde – oder den Freund oder die Freundin – versenden. Es liegt nahe, dass hier auch sehr persönliches oder intimes Material entsteht. Nun stellte sich heraus, dass dieses zum Teil für Angreifer abrufbar war – ebenso wie Geburtsdatum, Mailadresse oder Telefonnummer der jungen Nutzerinnen und Nutzer. TikTok hat sofort Abhilfe versprochen. Ein Update soll die Lücken schließen.
Doch auch im Normalbetrieb ist Datenschützern nicht ganz wohl bei Anwendungen wie TikTok. Es gelten die gleichen Sorgen wie bei allen großen Internetdiensten. Die Rechte an zahlreichen Daten gehen in den Besitz der Betreiberfirma über, und die speichert sie auf Servern in China, und zwar vermutlich für alle Ewigkeit. Dazu gehört auch, wer was wann gesehen, gepostet, mit einem Herzchen versehen oder kommentiert hat. Ein aktueller „Transparenzbericht“des Unternehmens wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Das Dokument empfiehlt Eltern, mit ihren Teens über Online-Sicherheit zu reden. Es sagt nicht klipp und klar, welche Daten wie lange aufbewahrt werden. Die US-Regierung prüft daher, ob TikTok vielleicht ein
Risiko für die Landessicherheit sein könnte.
Politisch Interessierte sehen zudem deutlich die Handschrift des chinesischen Staates beim Umgang mit politischen Inhalten auf TikTok. Videos, die Demokratie für Hongkong befürworten, verschwinden regelmäßig ohne weitere Erklärung.
Die deutsche Internetplattform Netzpolitik.org hat durch eigene Recherchen etwas Licht auf die Zensurpraktiken der beliebten App geworfen. Demnach haben grundsätzlich chinesische Aufseher das Sagen über die Auswahl erlaubter und zu löschender Inhalte. Die menschlichen Mitarbeiter entscheiden im Akkord darüber, was den Zensurfilter passieren darf. TikTok hat allerdings noch im alten Jahr angekündigt, die Auswahlregeln grundsätzlich mehr auf die jeweiligen Zielmärkte zuzuschneiden: Deutschen Anwendern soll in der App erlaubt sein, was in Deutschland gesetzlich gestattet ist.
Doch den meisten der jugendlichen Nutzer werden diese Mächte im Hintergrund kaum auffallen. Schließlich geht es um, Spaß, Musik und leicht zu erstellende Videoeffekte. TikTok ist – anders als Facebook – von der Idee her wirklich eine Unterhaltungs-App. Auseinandersetzungen mit Fragen der Menschenrechte wird hier kaum jemand vermissen.