Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Brexit stärkt die Antieuropäer
Nach dem Abschied der Briten aus dem EU-Parlament gehen ihre Sitze auch an Rechte
Von Daniela Weingärtner
GBRÜSSEL - Mit 751 Sitzen ist das Europaparlament die größte Abgeordnetenversammlung Europas. Die 73 britischen Volksvertreter waren bei der Sitzung in der vergangenen Woche zum letzten Mal in Straßburg dabei. Das Plenum wird also schrumpfen – aber nur um 46 Sitze, die für künftige Erweiterungsrunden in Reserve gehalten werden. 27 Sitze werden hingegen an Länder verteilt, die bislang – gemessen an der Bevölkerungszahl – zu kurz gekommen waren. Für Deutschland ändert sich nichts, da es die Obergrenze von 96 Abgeordneten pro Land erreicht hat.
Für die vielen EU-Befürworter unter den britischen Abgeordneten wird es ein schmerzlicher Abschied. Die Brexitpartei aber, deren Daseinszweck nun erfüllt ist, dürfte die Sektkorken knallen lassen. Im EU-Parlament weint man den pöbelnden Volksvertretern keine Träne nach, hatten sie vor allem durch Radau und herabsetzende Zwischenrufe für Aufmerksamkeit gesorgt.
Es ist aber noch längst nicht ausgemacht, dass sich die Parlamentarier nun wieder mehr dem Gesetzemachen widmen können. Denn bei der Wahl im vergangenen Mai wurden in fast allen EU-Ländern die antieuropäischen Kräfte stärker, was den Entlastungseffekt durch Britanniens Austritt neutralisieren dürfte.
Vielleicht ist das der Grund, dass Ungarns Premier Victor Orbán, der mit seiner Fidesz-Partei bislang noch zur konservativen EVP gehört, sich so lautstark nach neuen Bündnispartnern umsieht. Schon kurz nach der Wahl war spekuliert worden, Orbán könnte sich von der EVP trennen, um einem Rausschmiss zuvorzukommen. Dann gab er sich eine zeitlang sanfter, hat aber nun erneut auf Provokationsmodus geschaltet.
Es mag ihm leichter fallen, der größten Fraktion den Rücken zu kehren, wo nun die Rechtsaußenfraktion Identität und Demokratie (ID), zu der auch die AfD gehört, wohl zur viertstärksten Kraft aufrückt oder gar mit den Liberalen als drittstärkste Kraft gleichzieht.
Da die Niederlande aus dem Ausgleichskontingent drei zusätzliche Sitze erhalten, wird auch die „Partei für die Freiheit“des Rechtspopulisten Geert Wilders nachträglich den Sprung ins Europaparlament schaffen. Der rechtsradikale Rassemblement National Marine Le Pens und Italiens Lega erhalten je einen zusätzlichen Sitz. Damit wächst die ID von 73 auf 76 Sitze und wird hinter Konservativen, Sozialisten und Liberalen vierstärkste Kraft. Die Grünen hingegen verlieren zehn britische Brexitgegner und rutschen auf Platz fünf ab. Dort trennen sie nur wenige Plätze von der ECR-Fraktion, die von Polens nationalkonservativer Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“(PiS) dominiert wird.
Eine paradoxe Situation
Es ist also gut möglich, dass zwar im Rat das Regieren einfacher wird, wenn die ewig nörgelnden Briten weg sind. Im EU-Parlament hingegen tritt die paradoxe Situation ein, dass die antieuropäischste Fraktion gestärkt wird, obwohl 23 Mitglieder der Brexitparty das Haus verlassen. Die hatten sich als fraktionslos registrieren lassen und waren deshalb im parlamentarischen Kräftespiel gar nicht weiter in Erscheinung getreten.
Wie bisher schon werden auch künftig Konservative und Sozialisten eine dritte Kraft für die Mehrheitsbildung brauchen. Durch den Brexit gehen den Sozialisten zehn Labourabgeordnete verloren. Bei einem Übertritt der Fidesz würden die Konservativen 13 Sitze abspecken und die ID im gleichen Maß zulegen. Die Liberalen schrumpfen durch den Brexit um 17 Sitze, können aber dennoch mit den beiden anderen eine komfortable Mehrheit bilden. Auch mit Hilfe der Grünen lässt sich dann noch eine Mehrheit bilden, sie wird aber deutlich knapper ausfallen. Es zeigt sich, dass der Spielraum der proeuropäischen Parteien durch den Brexit nicht etwa erweitert wird, sondern gewaltig schrumpft.
Die proeuropäischen Abgeordneten werden erstaunlich wortkarg, wenn man sie auf diesen Effekt anspricht. Noch sei nicht ausgemacht, wo die Reise hingehe. Es wird darauf verwiesen, dass Fraktionen auf EUEbene deutlich weniger homogen sind als im nationalen Umfeld und dadurch auch häufiger in die Brüche gehen. Auch Victor Orbán hat womöglich noch gar nicht entschieden, der EVP den Rücken zu kehren. Vielleicht droht er nur mit dieser Möglichkeit, um die Fraktion zu einer härteren Linie in der Flüchtlingspolitik und zu mehr Ausgabenfreude gegenüber den ärmeren Mitgliedsländern in Osteuropa zu nötigen. Schließlich sind die Finanzverhandlungen für die Zeit ab 2021 neben dem Handelsvertrag mit Großbritannien das wichtigste Thema dieser Legislatur. Nur ein handlungsfähiges Parlament wird dem chronisch knickerigen Rat in dieser Frage Zugeständnisse abringen können.