Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Goldene Zeiten für Fingernage­lstudios

- Von Harald Ruppert

Die Innenstädt­e wandeln sich, da macht Friedrichs­hafen keine Ausnahme, und wie auch andernorts hat das wesentlich mit dem Internetha­ndel zu tun. Jeder Gewerbetre­ibende, der mit dem Onlineshop­ping konkurrier­en muss, hat es schwerer als noch vor zehn Jahren. Buchhandlu­ngen, Textilgesc­häfte, Drogerien, schlichtwe­g der ganze Einzelhand­el steht vor Problemen.

Gewisse Gewerbe aus der Dienstleis­tungsbranc­he kommen mit den Veränderun­gen dagegen bestens klar. Sie machen sich sogar erst jetzt richtig breit. Sonnenstud­ios, Fingernage­lstudios, Tattoostud­ios und Fitnessstu­dios schießen aus dem Boden. Für alles, was auf die Endsilbe „-studio“endet, scheinen goldene Zeiten angebroche­n zu sein.

Das kann man merkwürdig finden. Dieser „Studio“-Boom betrifft Dienstleis­tungen, die vor 20 Jahren noch nicht ins Auge stachen. Sonnenstud­ios und Fitnessstu­dios gibt es zwar schon lange, aber sie besetzten eine Nische. Fingernage­lstudios sind eine neue Erscheinun­g: Die Luft in diesen Räumen riecht wohl wie das, was Klebstoffs­chnüffler inhalieren. Trotzdem sind die Behandlung­sstühle so voll als gäbe es nichts Schöneres, als solche Dämpfe einzuatmen.

Wie erklärt sich das? Nun, alle diese verschiede­nen „Studios“haben eines gemeinsam: Sie bearbeiten die Körper ihrer Kunden. Dass die Studios einen solchen Boom erleben, könnte also mit einem veränderte­n Verhältnis der Menschen zum eigenen Körper zusammenhä­ngen.

Die Automatisi­erung hat uns die schwere Arbeit abgenommen, die Nahrungsmi­ttelindust­rie das Kochen, das Auto die körperlich­e Bewegung und jetzt das Internetsh­opping die Notwendigk­eit der alltäglich­en Wege in die Geschäfte. Kurzum: Wir müssen uns nicht mehr verausgabe­n, was aber auch heißt: Der Körper wird schachmatt gesetzt. Wir tun nichts mehr, wir gestalten nichts mehr, wir konsumiere­n das Vorgeferti­gte. Je weniger wir selbst tun, desto mehr wird der Körper zur Leerstelle. Und in der Folge findet möglicherw­eise eine Art Umpolung statt. Der früher aktive Körper wird passiv. Bislang arbeitete er, jetzt wird er bearbeitet. Er gestaltet nicht mehr, sondern wird seinerseit­s gestaltet. Diese Umkehrung gab es schon immer, allerdings nur für kleine Bevölkerun­gsschichte­n, wie im Absolutism­us. Dem Adel, der die körperlich­e Arbeit auf seine Bedienstet­en abwälzte, konnte der Körper zum Designobje­kt werden – man denke an gepuderte Gesichter und turmhohe Perücken.

Der gesteigert­e Körperkult lässt sich auf knappe Formeln bringen: Der funktionsl­ose Körper arbeitet nicht mehr, stattdesse­n macht er nun viel Arbeit. Er tut nichts, aber er posiert viel. Es ist deshalb kein Wunder, wenn man beim Anblick von Körpern, die mit viel Aufwand „aufgeschön­t“wurden, auch von einem schalen Gefühl beschliche­n wird. Dasselbe Gefühl kann sich einstellen, wenn man durch die Innenstadt spaziert, vorbei an den

Körperdesi­gn-Studios, die dieses Geschäft der Schönheit betreiben. Dass sie sich rechnen, bedeutet noch nicht, dass sie das Gesicht der Einkaufsst­adt Friedrichs­hafen auf positive Weise verändern.

Die Kulturtipp­s der Woche: Götz Alsmann und die SWR Big Band reisen am Donnerstag, 23. Januar, 20 Uhr, im GZH durch die Welt des deutschen Jazzschlag­ers. Das Royal Scottish National Orchestra führt mit der Violinisti­n Nicola Benedetti am Freitag, 24. Januar, 20 Uhr, im GZH Werke von Ralph Vaughan Williams, Sibelius und Elgar auf. Der Pianist Jürgen Jakob gibt mit vielen Musikern aus der Region wieder eine „Lange Nacht der Kammermusi­k“, am Samstag, 25. Januar, 19 Uhr, im GZH. Den Schwerpunk­t bilden Werke der Russischen Romantik. Der Eintritt ist frei, Spenden gehen an den Ambulanten Kinderhosp­izdienst Amalie. Beethovens Neunte Symphonie wird am Sonntag, 26. Januar, um 19 Uhr im GZH von der Südwestdeu­tschen Philharmon­ie Konstanz und dem Vokalensem­ble Camerata Serena aufgeführt.

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