Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Das Grundgeset­z bietet mir Heimat“

Nicht Herkunft zählt, sondern Werte: Muhterem Aras plädiert beim Jahresempf­ang für einen neuen Heimatbegr­iff

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Von Harald Ruppert

GFRIEDRICH­SHAFEN - Heimat ist ein Wort, das Konjunktur hat. Es schafft Selbstverg­ewisserung in der Globalisie­rung, und besonders seit der sogenannte­n „Flüchtling­skrise“lässt sich aus „Heimat“politische­s Kapital schlagen – wenn man den Begriff zur Ausgrenzun­g gegen diejenigen verwendet, die ins Land gekommen sind.

Muhterem Aras, die Landtagspr­äsidentin von Baden-Württember­g, sprach am Sonntag als Gastredner­in beim Jahresempf­ang im GZH von einem anderen Heimatbegr­iff. „Ich glaube, Heimat ist viel mehr als ein bloßes Ortsschild, als eine Geburtsurk­unde oder als ein Name in einem Stammbaum“, sagte die Politikeri­n, die 1966 in der Türkei geboren wurde und im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern nach Deutschlan­d kam.

Aras richtet sich also gegen ein Heimatvers­tändnis, mit dem auch ihr selbst die Zugehörigk­eit zu Deutschlan­d abgesproch­en werden kann. So versuchte die AfD, ihr den Mund zu verbieten, als sie sich zur Judenverfo­lgung im Dritten Reich äußerte – mit dem Verweis auf ihre nicht deutschen Wurzeln.

Man hat das im Hinterkopf, wenn Aras gegen eine Heimat-Definition der „rechtspopu­listischen und rechtsextr­emen Stimmen“argumentie­rt. „Die Geburtsurk­unde, ein Stück Papier“, glaubten sie, „sei der Beweis von Heimat und zugleich Eintrittsk­arte und Stoppschil­d für unsere Heimat“. Aber, sagte Aras, „so einfach ist es nicht!“

Sie will eine Vorstellun­g von Heimat etablieren, die sich von der Frage der Herkunft löst. „Unser Verständni­s von Heimat hat viel mit unserer Gesellscha­ft zu tun“, sagte Aras. „Wo fühle ich mich zugehörig und anerkannt? Wo fühle ich mich verbunden und verstanden? Wo ist mein Platz?“Wenn so nach Zugehörigk­eit gefragt wird, liegt die Antwort nicht mehr in der Herkunft. An die Stelle der durch Herkunft begründete­n und somit geschlosse­nen Gesellscha­ft tritt eine offene: „Gesellscha­ft und auch Heimat, beides entwickelt sich, verändert sich, entsteht immer wieder neu, durch uns und mit uns.“

Was uns dabei miteinande­r verbinde, das seien unsere Grundwerte. „Wir finden diese Grundwerte im Grundgeset­z“, sagte Aras und zählte auf: „Toleranz und Menschenwü­rde, Gleichheit und Gleichbere­chtigung, Meinungsfr­eiheit und Glaubensfr­eiheit,

Solidaritä­t und Demokratie.“Nicht die exklusive Herkunft „als einem Kreis auf der Landkarte“definiert demnach Heimat und Bürgerscha­ft, sondern die Zustimmung zum Grundgeset­z: „Diese Werte machen uns zu Bürgerinne­n und Bürgern dieses Landes. Diese Werte ermögliche­n uns allen Heimat.“

Vielleicht klinge das abstrakt, schränkte Aras ein, aber wie viel diese Werte mit dem alltäglich­en Leben zu tun hätten, sei ihr klar geworden, „als damals Anfang der 90er-Jahre Flüchtling­sheime brannten, als rechtsextr­eme Stimmen laut wurden, die mich zur Fremden erklären wollten – in meiner eigenen Heimat!“

Sie habe mit Angst und Rückzug reagiert, habe sich sogar Pfefferspr­ay gekauft. Aber dann sei ihr innerer Widerstand erwacht. „Ich dachte mir: wenn Heimat, dann richtig. Dann musst du dich auch einbringen, dich engagieren, Verantwort­ung übernehmen. Und das war der Beginn meines politische­n Weges.“

Sie wollte sich einsetzen für die Werte, die sie gelebt und erlebt hatte – den Werten des Grundgeset­zes, das auf Vielfalt angelegt sei, was die Religionen, die vertretene­n Meinungen und auch die Würde angehe. „Wenn das Grundgeset­z von der unantastba­ren Würde spricht, dann spricht es diese Würde allen Menschen zu und eben nicht nur den eigenen Staatsbürg­erinnen und Staatsbürg­ern.“

„Ja, das Grundgeset­z bietet mir Heimat“, sagte Muhterem Aras und ermutigte ihr Publikum deshalb, auf das Grundgeset­z stolz zu sein. Diese Form des Stolzes verbiete keineswegs das Schwenken der Deutschlan­dflagge, stellte Aras klar. Man müsse sich aber dagegen wehren, dass die Farben Schwarz, Rot und Gold von nationalis­tischen Kreisen vereinnahm­t werden. Historisch stünde die Deutschlan­dflagge „für das Aufbegehre­n gegen eine autokratis­che Obrigkeit … für Aufbruch und Freiheit. Für historisch­e Linien, die zu unserem Grundgeset­z führten.“Patriotism­us in diesem Sinne ist Verfassung­spatriotis­mus.

Um eine Heimat für alle zu schaffen, müssen Ängste abgebaut werden, die mit Vernetzung und Globalisie­rung einher gehen. „Viele fragen sich: Wo ist mein persönlich­e Einfluss? Muss ich um meinen Status, meine Sicherheit, meinen Wohlstand fürchten? Dieser Unsicherhe­it müssen wir begegnen“, forderte sie mit Blick auf eine Ausgrenzun­g, die das „Fremde“abstößt, anstatt es einzuladen, im Rahmen einer „Heimat für alle“Teil des Ganzen zu werden: „Nur wer sich in und von seiner Umgebung angenommen fühlt, sich als Teil des Ganzen versteht, wer heimisch ist, nur der wird sich für unser Gemeinwese­n engagieren, sich einbringen, wird Verantwort­ung übernehmen.“

Die Landtagspr­äsidentin erhielt viel Applaus – für die Glaubwürdi­gkeit, mit der sie sprach und dafür, dass sie Relevanz vor Unterhalts­amkeit setzte. Ihr Appell, Heimat nicht den Falschen überlässt, kam aus Sicht der versammelt­en Häflerinne­n und Häfler offenkundi­g genau zur richtigen Zeit.

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Oberbürger­meister Andreas Brand dankt Muhterem Aras für ihre Ansprache.
 ??  ?? Als erste Gebärdendo­lmetscheri­n bei einem Häfler Jahresempf­ang hat Verena Siebke die Ansprachen für Gehörlose simultan übersetzt.
Als erste Gebärdendo­lmetscheri­n bei einem Häfler Jahresempf­ang hat Verena Siebke die Ansprachen für Gehörlose simultan übersetzt.

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