Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Zwei Charaktertests auf das Drama
Die deutschen Handballer haben das Schicksal von Bundestrainer Prokop in der Hand
WIEN (dpa/SID) - Gezeichnet von einer kurzen Nacht schworen sich Deutschlands Handballer nach dem bitteren Ende aller realistischen Medaillenträume auf den EM-Charaktertest gegen Österreich ein. „Wir haben uns zusammengesetzt und gesagt, dass es weitergeht. Wir haben in der Hauptrunde ein anderes Gesicht gezeigt, genauso wollen wir das fortführen, auch wenn das Ziel Halbfinale abgeschrieben ist“, berichtete Kapitän Uwe Gensheimer über die Teamsitzung gleich nach dem Frühstück.
Auch wenn das 24:25 gegen Kroatien bei allen Beteiligten sichtbar nachwirkte, erwartet DHB-Vizepräsident Bob Hanning eine Trotzreaktion. „Es ist elementar wichtig für Mannschaft und Trainer, das Turnier erfolgreich zu Ende zu bringen. Es geht um den Willen und die Bereitschaft, nach solch einer Enttäuschung zurückzukommen“, sagte Hanning im schicken Teamhotel „Hilton Garden Inn“in der Wiener Südstadt. „Ich hoffe, dass sich die Mannschaft der Verantwortung bewusst ist und uns das gelingt.“
Auch Handball ist ein Ergebnissport
Auf das im Kampf um den Einzug ins Halbfinale benötigte Handball-Wunder hoffen selbst die größten Optimisten im deutschen Lager nicht mehr. „Die Chance liegt im Promillebereich. So betrunken kann ich gar nicht sein, das zu glauben“, sagte Hanning. Zu unrealistisch ist das Szenario, bei dem unter anderem der im Turnier noch ungeschlagene Titelverteidiger Spanien mit sieben oder acht Toren Unterschied gegen Weißrussland verlieren müsste.
Also werden nun die Partien gegen Co-Gastgeber Österreich am Montag (20.30 Uhr/ARD) und am Mittwoch (20.30 Uhr/ZDF) gegen Tschechien zum ultimativen Charaktertest für Gensheimer & Co. „Ich habe in die Mannschaft reingehorcht und eine klare Antwort bekommen: Wir wollen weiter Vollgas geben“, verkündete Bundestrainer Christian Prokop. „Es ist ganz wichtig, dass wir die EM nach der ersten Enttäuschung noch intensiv nutzen.“
Gensheimer versprach nach der Teamsitzung im Namen der Mannschaft: „Wir wollen genauso auftreten wie gegen Kroatien.“Da hatte die Mannschaft in der Tat ihre beste Turnierleistung
gezeigt, war gegen den Mitfavoriten lange vorne gelegen und hatte die Partie erst in den Schlussminuten verloren.
Während in Deutschland schon Diskussionen über Prokop begannen, stärkte Hanning seinen Trainer in Wien – erteilte aber eben auch einen klaren Siegauftrag. Am Montagabend, das betonte Hanning, „wird sich zeigen, was macht diese Mannschaft mit ihrem Trainer. Österreich in Österreich ist der beste Gegner, um all diese Fragen zu überprüfen.“
Fakt ist schließlich auch: Wieder spielte Deutschland ein großes Turnier unter Prokop, es war sein drittes, und wieder wurde das sportliche Ziel verfehlt. Nach Platz neun bei Prokops verpatzter EM-Premiere 2018 und dem undankbaren vierten Platz bei der Heim-WM vor einem Jahr ist jetzt maximal noch Rang fünf drin – zwingende Voraussetzung dafür ist ein Sieg gegen Österreich.
„Wir können noch nach Stockholm kommen und um Platz fünf spielen, das muss jetzt das Ziel sein“, sagte Hanning. Die Spiele sind womöglich mehr als nur ein Charaktertest: Gelingen der Mannschaft keine zwei Siege, wird die Trainerdiskussion ein halbes Jahr vor den Olympischen Spielen in Tokio an Fahrt aufnehmen. Schon im April findet zudem das Qualifikationsturnier für Tokio statt. Auch Handball ist ein Ergebnissport, erst recht im mitgliederstärksten Verband der Welt.
„Christian Prokop hat sich im Vergleich zu seiner ersten EM 2018 natürlich auch weiterentwickelt, aber unter dem Strich bleibt, dass es wieder nicht gereicht hat“, sagte 2007Weltmeister Christian Schwarzer. Und Andreas Thiel meinte: „Wir hatten eine vergleichsweise leichte Auslosung, und wir haben unser Ziel nicht erreicht, das ist nun mal Fakt, und das ist schade.“
Deutlicher in seiner Kritik wurde Ex-Welthandballer Daniel Stephan. „Wir sind seit der WM 2019 keinen Schritt nach vorne gekommen, haben die Vorrunde total verschlafen, das darf nicht passieren“, sagte Stephan und nannte „Defizite im Angriff, die zweite Welle funktioniert nicht. Das ist alles sehr ernüchternd.“Prokop sei „nicht der Richtige“, habe „zu wenig Erfahrung. Es gibt nach wie vor kein Konzept gegen eine offensive Deckung, und die Wechsel tragen zur Verunsicherung bei.“
Die Kritik ist hart und in Teilen nachvollziehbar. Doch darf bei der Analyse auch nicht vergessen werden, dass Prokop durch die vielen Verletzungen mit großem Handicap in das Turnier startete. Der Bundestrainer musste sechs Stammkräfte ersetzen und in Rekordzeit eine neue Spielführung im Rückraum installieren. Das gelang zumindest teilweise, der Auftritt gegen Kroatien war über weite Strecken mitreißend und richtig gut.
Genauso eine Vorstellung wird auch am Montag vonnöten sein. Vor allem für Prokop.