Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Ohne Maut droht der Stau
Autofahrer brauchen keine Vignette mehr für Fahrten in grenznahe Vorarlberger Regionen – Österreichische Orte wie Hohenems leiden nun aber unter Blechlawinen
- Wintermorgen in Hohenems, einer geschichtsträchtigen Vorarlberger Kleinstadt. Weil hinter dem örtlichen Renaissance-Schloss gleich die Berge des Bregenzerwaldes aufragen, liegt tiefer Schatten über dem Ort. Es ist frostig. Gleich wird es aber noch frostiger werden – zumindest was die Stimmung einiger Gesprächspartner betrifft. Denn es geht um die Aufhebung der Vignettenpflicht auf der Vorarlberger Rheintalautobahn von der bayerischen Grenze bei Lindau bis Hohenems, gute 26 Kilometer ohne Maut. „Das ist doch ein Schwachsinn“, schimpft Brigitte Kogler, Mitarbeiterin eines Kiosks an einer Ausfallstraße der Stadt. „Wir gehen sowieso schon fast im Verkehr unter. Jetzt wird es noch mehr.“Gerd Obwegeser, Wirt des Cafés Lorenz, unterbricht mit rot anlaufendem Gesicht seinen Frühschoppen und sagt: „Die Vignettenbefreiung ist eine komplette Fehlentscheidung. Jetzt bewegt sich auf den Straßen immer öfters gar nichts mehr.“Dies müsse anders geregelt werden, fordert der stämmige Mann.
Was ist passiert? Im November hatte das österreichische Parlament einen Vorschlag der konservativen ÖVP durchgewunken. Er besagt, dass ab Mitte Dezember auf fünf kurzen Autobahnabschnitten keine Maut mehr erhoben wird – anders als auf dem sonstigen Autobahnnetz des Landes. Drei Strecken liegen im Grenzbereich zu Bayern bei Bregenz, Kufstein und Salzburg, zwei bei der oberösterreichischen Hauptstadt Linz. Mit dieser Ausnahmeregelung sollte einer Mautflucht von der Autobahn auf Nebenstraßen Einhalt geboten werden. Diverse Orte waren nämlich von einem solchen Ausweichverkehr überrollt worden.
Am östlichen Bodensee betraf es auf bayerischem Boden Lindauer Teilorte wie Zech. Ein Stück weiter hinter der Grenze an der Leiblach litten die Gemeinden Hörbranz und Lochau sowie die Landeshauptstadt Bregenz unter Mautflüchtlingen. Vor allem an Ausflugs- und Ferienwochenenden war gemeinsames Stauen auf der Uferstraße angesagt. Viele, die nur mal in den nahegelegenen Bregenzerwald oder ein paar Kilometer weiter in die Schweiz fuhren, wollten sich das Geld für das Pickerl sparen – zuletzt etwa 9,20 Euro für eine Zehntagesvignette.
Lindaus Oberbürgermeister Gerhard Ecker zeigt sich besonders mit Blick auf Zech erfreut: „Schon jetzt merkt man deutlich, dass der unnötige Durchgangsverkehr der Skifahrer und Urlauber weniger geworden ist. Für uns bedeutet das weniger Lärm, weniger Abgase und mehr Verkehrssicherheit.“Aus dem Bregenzer Rathaus wird berichtet, dass der dortige Bürgermeister Markus Linhart die Vignetten-Entscheidung ebenso für höchst glücklich hält. Der konservative Kommunalpolitiker hatte jahrelang dafür gekämpft, nachdem 2013 die damalige Korridorvignette weggefallen war. Sie kostete drei Euro pro Fahrt und galt ebenso bis Hohenems. Der Weg war damit wenigstens billiger als mit Standard-AutobahnPickerl. Weshalb sich die Mautflucht nach Linharts Ansicht in Grenzen hielt. Als aber seinerzeit die zweite Röhre des Pfändertunnels in Betrieb genommen wurde, strich der österreichische Autobahnbetreiber Asfinag die Korridorvignette. Für die Grenzstrecken am östlichen Bodensee brachen schlechte Zeiten an.
Auch anderswo in österreichischen Grenzstädten war man mit der normalen Vignette unglücklich – etwa in Kufstein und in Salzburg. Linhart konnte deshalb Kollegen mit ins Boot nehmen. Das Ziel lautete: freie Fahrt im Grenzgebiet. Von München aus drängelte die Bayerische Staatsregierung in dieselbe Richtung. Sie wollte weiß-blauen Grenzorten etwas Gutes tun. Folgerichtig begrüßte die Staatsregierung den Beschluss Wiens: „Eine richtige Entscheidung.“
Einstimmig war diese übrigens nicht. So war etwa die SPÖ dagegen. Die Entscheidung bedeute im Kern bloß „freie Fahrt für Deutsche auf österreichischen Autobahnen“, warnte der ehemalige sozialdemokratische Verkehrsminister Alois Stöger. Verkehrsund klimapolitisch sei die Vignettenbefreiung
ein Holzweg, findet der SPÖ-Mann. Er bevorzugt eine kilometerabhängige Maut: Wer viel fährt, soll viel zahlen. So weit ist die Diskussion aber noch nicht. Vor Ort stellt sich die Lage sogar recht einfach dar. Motto: Des einen Freud, des anderen Leid. Wobei regionale Verkehrsexperten früh darauf aufmerksam gemacht haben, dass sich die Blechlawine zwischen Lindau und Bregenz nicht in Luft auflösen werde. Ihre Warnung: Das Problem der Mautflucht verschiebe sich – und zwar dorthin, wo die Vignettenpflicht beginnt.
Anders ausgedrückt: Ausflügler oder Touristen können beim Wegfall der Maut im Grenzraum auf der Autobahn ein gutes Stück gratis nach Österreich hineinfahren. Offenbar bestätigen sich die Befürchtungen. Bürgermeister Dieter Egger erzählt: „An den Skiwochenenden über Weihnachten und Neujahr ist der Verkehr am Autobahnknoten zusammengebrochen.“Dasselbe gelte für den Grenzübergang Lustenau, einer nahen Verbindung hinüber in die Schweiz. Es habe kilometerlange Staus gegeben. Egger bestätigt zwar, dass auch vor dem Vignettenbeschluss viele Autos unterwegs gewesen seien. „Aber die Mautbefreiung bringt das Fass zum Überlaufen“, stellt der zur Rechtspartei FPÖ gehörende Politiker fest.
Ähnlich sehen es die Bürgermeister benachbarter Kommunen. Altach und Mäder wehren sich. Für Lustenau sagt das Gemeindeoberhaupt Kurt Fischer, er sehe Stau „so weit das Auge reicht“. Und wenn er auch noch nicht sagen könne, wie stark die Befreiung von der Vignettenpflicht den Stillstand befeure, sei seine Haltung
klar: Die Regelung müsse weg – „und dies sofort“, verlangt der Konservative. Er verweist darauf, dass gerade seine Kommune ein aktenkundiges Problemgebiet in Sachen Luftverschmutzung sei. In den vergangenen Jahren hätten sich an vielen Tagen bis zu 27 000 Fahrzeuge über die Haupteinfallsstraße durch den Ort gewälzt, darunter bis zu 3000 Lkw. Die Region sei schon bisher der am stärksten belastete Landstrich Vorarlbergs. Da könne man ja wohl nicht draufsatteln, argumentiert Fischer. Schließlich sollte der Verkehr eher weniger werden.
Zusammen mit anderen betroffenen Kollegen will Lustenaus Bürgermeister vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof gegen die Wiener Entscheidung klagen. Die Chefs der Kommunen monieren die Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Soll heißen, sie fühlen sich schlechter behandelt als die nun vom Verkehr entlasteten Kommunen am östlichen Bodensee. Bei solchen Verfahren geht aber erfahrungsgemäß erst einmal überhaupt nichts schnell. Dies lässt Zeit, die Verkehrsströme genauer zu beobachten. Lustenau hat durch den Übergang zur Schweiz vor allem viel Grenzverkehr. Die neue Vignettensituation erlaubt nun Reisenden von Lindau in Richtung eidgenössischer Städte wie Chur oder zu Alpenpässen wie den St. Bernardino ein mautfreies Autobahnfahren in Vorarlberg. Bevor es Geld kostet, kann bei Lustenau rechts abgebogen werden. Gleichzeitig gelangen nun Schweizer pickerlfrei auf der Autobahn zu den großen Vorarlberger Einkaufszentren – die sie wegen günstiger Waren schon bisher massenhaft angesteuert haben.
In Hohenems ist beispielsweise die Zufahrt ins Skigebiet des Laternser Tals verlockend – oder auch eine Weiterfahrt auf Nebenstrecken Richtung Feldkirch, Montafon oder Arlberg. Dass es sich dabei um recht kurvige, immer wieder durch verwinkelte Orte führende Landstraßen handelt, wissen meist nur Einheimische. „Auswärtige vertrauen ihrem Navigationsgerät und sehen günstige Ausweichwege – und schon staut sich alles auf den Straßen“, meint ein genervt wirkender Passant, dessen Arbeitsplatz unweit des Hohenemser Autobahnknotens liegt.
Zum kleinen Trost aller, die sich als Opfer der Vignettenbefreiung sehen, hat sich Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner bereits etwas aus der Reserve locken lassen. Er schlägt eine „Evaluierung“vor. In zwölf Monaten sollen bis dahin gesammelte Verkehrsdaten analysiert werden. Worauf ein Beschluss zum weiteren Vorgehen geplant ist. Zurücknehmen kann die Mautentscheidung aber nur Regierung und Parlament in Wien. Gegenwärtig sieht es aber so aus, als wolle die gerade geschlossene schwarz-grüne Koalition das heiße Eisen lieber nicht noch einmal anpacken.
Zudem kann der mautfreien Strecke in Vorarlberg offenbar auch ein Vorteil abgewonnen werden. „Verkehr bringt Einnahmen“, weiß Manfred Vogel, Lebensgefährte einer Tankstelleneigentümerin am zentralen Lustenauer Kreisverkehr.