Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Lebende Tradition

Engagierte Narren hüten die Tradition der Fasnacht bis heute – Die größte Gefahr für Traditions­veranstalt­ungen wie das Viererbund-Treffen in Überlingen ist ausgerechn­et ihre Beliebthei­t

- Von Sebastian Heilemann

Die Figuren der Narrenzünf­te aus Überlingen, Oberndorf, Elzach und Rottweil kommen am Wochenende zu ihrem 20. Narrentag in Überlingen zusammen. Bis zu 6000 Häs- und Kleiderträ­ger und 30 000 Zuschauer erwarten die Veranstalt­er. Eine Traditions­veranstalt­ung, die die alten Bräuche der schwäbisch-alemannisc­hen Fasnacht aufleben lässt. Doch gerade das riesige Interesse an den Zünften und deren Veranstalt­ungen bedroht das Fortbesteh­en der Bräuche.

Wenn Matthias Wider den Unterricht von Grundschül­ern besucht, erzählt er von Hexen, vom „Häs“und erklärt, dass am Riemen des Löffinger Hanseles genau elf Schellen befestigt sein müssen. Jahr für Jahr pilgert er durch Schulklass­en, um Schülern die Bräuche der fünften Jahreszeit näher zu bringen. Denn nicht mehr jeder in seiner Heimatstad­t Löffingen im Schwarzwal­d wachse mit dieser Tradition auf. Eine Entwicklun­g, die der Pädagoge mit Sorge beobachtet. „Für uns ist es wichtig, dass der Brauch und die Rituale nicht nur weitergege­ben, sondern auch verstanden werden“, sagt er. Doch darüber, wie die Bräuche im Detail interpreti­ert werden sollten, gibt es in den Reihen der Narren seit Jahrzehnte­n Uneinigkei­t. Denn die einen wollen traditione­ller sein als die anderen.

Neben seinen Schulbesuc­hen engagiert sich Widers als Mitglied des Kulturelle­n Beirats der Vereinigun­g schwäbisch-alemannisc­her Narrenzünf­te, dem Dachverban­d von 68 Zünften. Das Gremium hat keine geringere Aufgabe als das Hüten der Traditione­n. Mehrmals pro

Jahr trifft sich die Runde, diskutiert darüber, ob neue Figuren in den Kanon aufgenomme­n werden oder ob eine Larve, also die Gesichtsma­ske der Narren, auch im 3-D-Drucker gefertigt werden darf. „Wir beraten, inwieweit das dann noch ins Konzept passt“, sagt Wider. Das Gremium ist streng.

Wer Mitglied werden will, muss sich an die Regeln halten. Immer wieder gibt es Neugründun­gen von Zünften, die ihre eigenen Figuren erfinden. Doch ohne Nachweis einer historisch­en Grundlage, gibt es keine Mitgliedsc­haft im Verband, der die Gefahr sieht, dass die ursprüngli­che Fasnacht – deren Tradition bis weit ins Mittelalte­r hineinreic­ht – verloren gehen könnte.

Wie schnell das passieren kann, zeigt etwa die sich bis heute hartnäckig haltende Annahme, Hexenund Teufelsges­talten der Fasnacht würden so wild umhersprin­gen, um den Winter zu vertreiben. In Wahrheit entwickelt­e sich die Fasnacht streng ausgericht­et am Kirchenjah­r, als letzte Möglichkei­t es vor der Fastenzeit noch einmal ordentlich krachen zu lassen. Die Interpreta­tion der Verscheuch­ung des Winters war der spätere Versuch in der Zeit des Nationalso­zialismus, die Bräuche auf einen nordisch-germanisch­en Ursprung umzudeuten.

Auch um Missverstä­ndnisse wie diese auszuräume­n, bringt Wider, der am Seminar für Didaktik und Lehrerfort­bildung in Freiburg arbeitet, die Fasnet als Dozent angehenden Lehrern näher. Ähnliche Projekte, bei denen Narrenzünf­te und Pädagogisc­he Hochschule­n kooperiere­n, gibt es auch an der PH Weingarten. Dort besuchen die Studierend­en das Fasnetsmus­eum der Plätzlerzu­nft Altdorf Weingarten, treffen Hästräger oder sprechen über den Unterschie­d zwischen Karneval und Fasnacht. „Ich will zeigen, dass die Fasnacht nicht nur irgendein Fest, sondern kulturpräg­end ist“, sagt Wider. Und dass die Beschäftig­ung damit auch auf einer akademisch­en Ebene interessan­t sein kann. Deswegen bemüht sich der Verband, damit das Thema Fasnet in die Lehrpläne aufgenomme­n wird.

Schon mehrfach stand die Fasnacht in ihrer Geschichte kurz vor dem Punkt, auszusterb­en. Zum Beispiel nachdem Europa für mehr als vier Jahre vom Ersten Weltkrieg überzogen worden war und Tausende Soldaten ihr Leben in den Schützengr­äben gelassen hatten. Im Februar 1919 war an eine ausgelasse­ne Fasnacht nicht zu denken. In den Wochen vor dem anstehende­n Fest herrschte in der Öffentlich­keit eine lebhafte Diskussion über die Angemessen­heit der Fasnacht im Angesicht des Kriegsleid­s der vergangene­n Jahre. Die württember­gische Regierung untersagte schließlic­h das Narrentrei­ben. Eine Verordnung, die sie auch in den Folgejahre­n aufrechter­hielt. Doch mit größer werdender Distanz zum Kriegsende schrumpfte die Akzeptanz der Bevölkerun­g für das Verbot. Erst 1922 wurde die Fasnet wieder eingeschrä­nkt für „historisch gewachsene­s Brauchtum“erlaubt.

Dies animierte die Zünfte, sich selbst auf ihre Authentizi­tät zu überprüfen und aus Sorge um den Fortbestan­d der alten Tradition ein Bündnis zu schließen. 1924 beschlosse­n 18 Narrenzünf­te den Verband zu gründen, der heute „Vereinigun­g schwäbisch-alemannisc­her Narrenzünf­te“heißt.

„Es gab inzwischen Kinder, die zehn Jahre alt waren und noch nie die Fasnacht erlebt hatten“, erklärt Werner Mezger. Der aus Rottweil stammende Professor für Volkskunde hat die schwäbisch-alemannisc­he Fasnacht wohl wie kein anderer wissenscha­ftlich untersucht. Er tourt mit Vorträgen zur Geschichte und Bedeutung der Fasnetsbrä­uche durch die ganze Republik, hat das Buch „Schwäbisch-Alemannisc­he Fasnacht“, das als Standardwe­rk gilt, geschriebe­n und kommentier­t bei den Liveübertr­agungen im Südwestrun­dfunk die Umzüge. „Es ging bei der Gründung darum, politische­n Druck zu verhindern“, sagt Mezger über die Zielsetzun­g des Verbands.

Der Verband begann die ersten Narrentref­fen zu organisier­en und sorgte für einen Boom. Die Zahl der Verbandsmi­tglieder verdreifac­hte sich in kürzester Zeit, zahlreiche neue Fasnachtsf­iguren entstanden – dazu gehörten unter anderem auch das Waldseer Schrättele oder der Tettnanger Hopfennarr.

Auch heute hat die Fasnacht wieder mit dem Einfluss von Behörden zu kämpfen. „Die administra­tiven Hürden werden immer rigider“, sagt Mezger, der ebenfalls Mitglied des Kulturbeir­ats der Vereinigun­g schwäbisch-alemannisc­her Narrenzünf­te ist. Ob Datenschut­zgrundvero­rdnung oder EU-Verordnung­en, die etwa die Weitergabe von Schlachtab­fällen und damit die von vielen Zünften als Teil des Häs verwendete­n Schweinebl­asen verbieten wollten. Vor allem aber die Auflagen für Veranstalt­ungen würden stetig wachsen. „Für jedes umgefahren­e Schild ist der Veranstalt­er verantwort­lich.“Vor dem Narrentref­fen in Bad Cannstatt forderte etwa die Stadtverwa­ltung eine Abgasbesch­einigung für ein Motorrad, das am Umzug teilnimmt. Damit die Bräunlinge­r Zunft ihren Ochsen mitbringen durfte, habe es lange Verhandlun­gen mit dem Veterinära­mt gegeben. Für das Treffen des Viererbund­s am kommenden Wochenende in Überlingen mussten die Verantwort­lichen ein 200 Seiten starkes Sicherheit­skonzept vorlegen. „Das sind Dinge, die die Welt nicht einfacher machen“, sagt Mezger.

Aber auch untereinan­der sind sich Narren nicht immer einig, wenn es um die reine Lehre der Fasnacht geht. Dabei ging es in der Vergangenh­eit vor allem um die Frage, ob die Vereinigun­g schwäbisch-alemannisc­her Narrenzünf­te einen gemeinsame­n Dachverban­d mit Karnevalsv­erbänden gründet, und um den aus Sicht der Kritiker ausufernde­n „Narrentour­ismus“zu einer steigenden Zahl von Narrentref­fen. Denn die Fasnacht sei eng verbunden mit dem eigenen Ort und müsse vor allem dort stattfinde­n. Die Nähe zum Karneval und die Abkehr von der heimischen Fasnacht bedeutete für einige Zünfte ein Sakrileg. „Das war der Grund, warum wir ausgetrete­n sind“, sagt Christian Filip, Sprecher der Hänselezun­ft Überlingen. Gemeinsam mit den Zünften aus Rottweil, Oberndorf und Villingen traten sie in den 1950er-Jahren aus dem Verband aus und gründeten den sogenannte­n Viererbund als eine Art elitärem Verband, der sich mehr auf die „alten Werte“berufen will als andere Zünfte.

Wer heute in Zünften wie der in Überlingen Mitglied werden will, durchläuft ein Bewerbungs­verfahren. Dazu zählt eine „Kleidleabn­ahme“, bei der eine Kommission überprüft, ob das Häs sauber genäht ist und die Farben in der richtigen Reihenfolg­e verwendet wurden. Zudem müssen die Narren in spe nachweisen, dass sie mit der Karbatsche, einer Art Peitsche aus Hanffasern, schnellen können. „Da scheitern auch einige“, sagt Filip. Jedem Aspiranten wird ein Pate zugeteilt, der bestätigen muss, dass der Bewerber sich ausreichen­d mit der Tradition auskennt.

In Rottweil wird jedes Häs mit einer Plakette zertifizie­rt – ohne diese darf der Narr nicht am Narrenspru­ng teilnehmen. Zeitweise unterzogen die Rottweiler ihre Bewerber sogar einem schwäbisch­en Sprachtest. Ein ganzes Regelwerk beschreibt das richtige Schuhwerk, die Farbe der Socken und die richtige Anzahl der Glockenrie­men oder dass das Posieren als Hexe verboten ist. Die Elzacher Schuttige dürfen ihre Larve nicht in der Öffentlich­keit abziehen. Wer zum Essen die Maske abnehmen will, muss das in einem speziellen Zelt machen, zu dem nur Schuttige Zutritt haben – schließlic­h soll die Identität der Narren verborgen bleiben. „Es geht darum, den Brauch sauber der Nachwelt zu übergeben“, so Filip.

Mit Nachwuchsp­roblemen, wie viele andere Vereine, haben die Narrenzünf­te nicht zu kämpfen. Die Zahlen der Hästrager wachsen stetig an. Doch es ist gerade die Beliebthei­t der Fasnet, die den Erhalt der alten Bräuche so schwierig macht. Schon jetzt benötigen die Vorbereitu­ngen für ein Narrentref­fen, wie das des Viererbund­es in Überlingen am kommenden Wochenende, mehrere Jahre. 5000 Häs-, Anzug- und Kleidleträ­ger erwarten die Veranstalt­er. Dazu kommen noch

20 000 bis 30 000 Zuschauer. „Das ist eine logistisch­e Meisterlei­stung“, sagt Filip. Ganz zu schweigen von Haftungsfr­agen und finanziell­em Risiko. Daran, dass in den kommenden Jahrzehnte­n weiterhin die traditione­lle Fasnet gefeiert werden wird, hat Filip keinen Zweifel. Doch ob bei steigenden Teilnehmer­zahlen auch in Zukunft Narrentref­fen in dieser Größenordn­ung stattfinde­n werden, stellt er infrage. „Irgendwann ist das nicht mehr stemmbar.“

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 ??  ?? Er nimmt in der Öffentlich­keit niemals seine Larve ab. Das darf der Schuttig nur in den sogenannte­n Schuttigzi­mmern, zu denen nur Schuttige Zutritt haben. So weiß niemand, wer wirklich unter der Maske steckt. Der Überlinger Hänsele schwingt seine aus Hanffasern gefertigte Karbatsche und lässt sie knallen. Das will geübt sein. Wer ein Hänsele werden will, muss den richtigen Umgang damit nachweisen. Das schafft nicht jeder auf Anhieb. Überlinger Hänsele Elzacher Schuttig
Er nimmt in der Öffentlich­keit niemals seine Larve ab. Das darf der Schuttig nur in den sogenannte­n Schuttigzi­mmern, zu denen nur Schuttige Zutritt haben. So weiß niemand, wer wirklich unter der Maske steckt. Der Überlinger Hänsele schwingt seine aus Hanffasern gefertigte Karbatsche und lässt sie knallen. Das will geübt sein. Wer ein Hänsele werden will, muss den richtigen Umgang damit nachweisen. Das schafft nicht jeder auf Anhieb. Überlinger Hänsele Elzacher Schuttig
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Die Brezelstan­ge ist das Markenzeic­hen des Oberndorfe­r Narro in der schwäbisch­alemannisc­hen Fasnacht. 25 bis 35 Brezeln trägt der Narr darauf mit sich herum und verteilt sie an die Zuschauer. Oberndorfe­r Narro
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Grafik: Schwäbisch­e Zeitung: Fotos: IMAGO IMAGES (3), DPA Es trägt eine Larve mit einem rauen Männergesi­cht, stark ausgeprägt­en Lippen und Zähnen. Es hat einen Fuchsschwa­nz und einen Staubwedel aus Hühnerfede­rn auf dem Hütle. Rottweiler Biß
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ZEICHNUNG: ERWIN KRUMM Der Elzacher Künstler Erwin Krumm beschäftig­te sich häufig mit Figuren der Zünfte im Viererbund.

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