Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Lebende Tradition
Engagierte Narren hüten die Tradition der Fasnacht bis heute – Die größte Gefahr für Traditionsveranstaltungen wie das Viererbund-Treffen in Überlingen ist ausgerechnet ihre Beliebtheit
Die Figuren der Narrenzünfte aus Überlingen, Oberndorf, Elzach und Rottweil kommen am Wochenende zu ihrem 20. Narrentag in Überlingen zusammen. Bis zu 6000 Häs- und Kleiderträger und 30 000 Zuschauer erwarten die Veranstalter. Eine Traditionsveranstaltung, die die alten Bräuche der schwäbisch-alemannischen Fasnacht aufleben lässt. Doch gerade das riesige Interesse an den Zünften und deren Veranstaltungen bedroht das Fortbestehen der Bräuche.
Wenn Matthias Wider den Unterricht von Grundschülern besucht, erzählt er von Hexen, vom „Häs“und erklärt, dass am Riemen des Löffinger Hanseles genau elf Schellen befestigt sein müssen. Jahr für Jahr pilgert er durch Schulklassen, um Schülern die Bräuche der fünften Jahreszeit näher zu bringen. Denn nicht mehr jeder in seiner Heimatstadt Löffingen im Schwarzwald wachse mit dieser Tradition auf. Eine Entwicklung, die der Pädagoge mit Sorge beobachtet. „Für uns ist es wichtig, dass der Brauch und die Rituale nicht nur weitergegeben, sondern auch verstanden werden“, sagt er. Doch darüber, wie die Bräuche im Detail interpretiert werden sollten, gibt es in den Reihen der Narren seit Jahrzehnten Uneinigkeit. Denn die einen wollen traditioneller sein als die anderen.
Neben seinen Schulbesuchen engagiert sich Widers als Mitglied des Kulturellen Beirats der Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte, dem Dachverband von 68 Zünften. Das Gremium hat keine geringere Aufgabe als das Hüten der Traditionen. Mehrmals pro
Jahr trifft sich die Runde, diskutiert darüber, ob neue Figuren in den Kanon aufgenommen werden oder ob eine Larve, also die Gesichtsmaske der Narren, auch im 3-D-Drucker gefertigt werden darf. „Wir beraten, inwieweit das dann noch ins Konzept passt“, sagt Wider. Das Gremium ist streng.
Wer Mitglied werden will, muss sich an die Regeln halten. Immer wieder gibt es Neugründungen von Zünften, die ihre eigenen Figuren erfinden. Doch ohne Nachweis einer historischen Grundlage, gibt es keine Mitgliedschaft im Verband, der die Gefahr sieht, dass die ursprüngliche Fasnacht – deren Tradition bis weit ins Mittelalter hineinreicht – verloren gehen könnte.
Wie schnell das passieren kann, zeigt etwa die sich bis heute hartnäckig haltende Annahme, Hexenund Teufelsgestalten der Fasnacht würden so wild umherspringen, um den Winter zu vertreiben. In Wahrheit entwickelte sich die Fasnacht streng ausgerichtet am Kirchenjahr, als letzte Möglichkeit es vor der Fastenzeit noch einmal ordentlich krachen zu lassen. Die Interpretation der Verscheuchung des Winters war der spätere Versuch in der Zeit des Nationalsozialismus, die Bräuche auf einen nordisch-germanischen Ursprung umzudeuten.
Auch um Missverständnisse wie diese auszuräumen, bringt Wider, der am Seminar für Didaktik und Lehrerfortbildung in Freiburg arbeitet, die Fasnet als Dozent angehenden Lehrern näher. Ähnliche Projekte, bei denen Narrenzünfte und Pädagogische Hochschulen kooperieren, gibt es auch an der PH Weingarten. Dort besuchen die Studierenden das Fasnetsmuseum der Plätzlerzunft Altdorf Weingarten, treffen Hästräger oder sprechen über den Unterschied zwischen Karneval und Fasnacht. „Ich will zeigen, dass die Fasnacht nicht nur irgendein Fest, sondern kulturprägend ist“, sagt Wider. Und dass die Beschäftigung damit auch auf einer akademischen Ebene interessant sein kann. Deswegen bemüht sich der Verband, damit das Thema Fasnet in die Lehrpläne aufgenommen wird.
Schon mehrfach stand die Fasnacht in ihrer Geschichte kurz vor dem Punkt, auszusterben. Zum Beispiel nachdem Europa für mehr als vier Jahre vom Ersten Weltkrieg überzogen worden war und Tausende Soldaten ihr Leben in den Schützengräben gelassen hatten. Im Februar 1919 war an eine ausgelassene Fasnacht nicht zu denken. In den Wochen vor dem anstehenden Fest herrschte in der Öffentlichkeit eine lebhafte Diskussion über die Angemessenheit der Fasnacht im Angesicht des Kriegsleids der vergangenen Jahre. Die württembergische Regierung untersagte schließlich das Narrentreiben. Eine Verordnung, die sie auch in den Folgejahren aufrechterhielt. Doch mit größer werdender Distanz zum Kriegsende schrumpfte die Akzeptanz der Bevölkerung für das Verbot. Erst 1922 wurde die Fasnet wieder eingeschränkt für „historisch gewachsenes Brauchtum“erlaubt.
Dies animierte die Zünfte, sich selbst auf ihre Authentizität zu überprüfen und aus Sorge um den Fortbestand der alten Tradition ein Bündnis zu schließen. 1924 beschlossen 18 Narrenzünfte den Verband zu gründen, der heute „Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte“heißt.
„Es gab inzwischen Kinder, die zehn Jahre alt waren und noch nie die Fasnacht erlebt hatten“, erklärt Werner Mezger. Der aus Rottweil stammende Professor für Volkskunde hat die schwäbisch-alemannische Fasnacht wohl wie kein anderer wissenschaftlich untersucht. Er tourt mit Vorträgen zur Geschichte und Bedeutung der Fasnetsbräuche durch die ganze Republik, hat das Buch „Schwäbisch-Alemannische Fasnacht“, das als Standardwerk gilt, geschrieben und kommentiert bei den Liveübertragungen im Südwestrundfunk die Umzüge. „Es ging bei der Gründung darum, politischen Druck zu verhindern“, sagt Mezger über die Zielsetzung des Verbands.
Der Verband begann die ersten Narrentreffen zu organisieren und sorgte für einen Boom. Die Zahl der Verbandsmitglieder verdreifachte sich in kürzester Zeit, zahlreiche neue Fasnachtsfiguren entstanden – dazu gehörten unter anderem auch das Waldseer Schrättele oder der Tettnanger Hopfennarr.
Auch heute hat die Fasnacht wieder mit dem Einfluss von Behörden zu kämpfen. „Die administrativen Hürden werden immer rigider“, sagt Mezger, der ebenfalls Mitglied des Kulturbeirats der Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte ist. Ob Datenschutzgrundverordnung oder EU-Verordnungen, die etwa die Weitergabe von Schlachtabfällen und damit die von vielen Zünften als Teil des Häs verwendeten Schweineblasen verbieten wollten. Vor allem aber die Auflagen für Veranstaltungen würden stetig wachsen. „Für jedes umgefahrene Schild ist der Veranstalter verantwortlich.“Vor dem Narrentreffen in Bad Cannstatt forderte etwa die Stadtverwaltung eine Abgasbescheinigung für ein Motorrad, das am Umzug teilnimmt. Damit die Bräunlinger Zunft ihren Ochsen mitbringen durfte, habe es lange Verhandlungen mit dem Veterinäramt gegeben. Für das Treffen des Viererbunds am kommenden Wochenende in Überlingen mussten die Verantwortlichen ein 200 Seiten starkes Sicherheitskonzept vorlegen. „Das sind Dinge, die die Welt nicht einfacher machen“, sagt Mezger.
Aber auch untereinander sind sich Narren nicht immer einig, wenn es um die reine Lehre der Fasnacht geht. Dabei ging es in der Vergangenheit vor allem um die Frage, ob die Vereinigung schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte einen gemeinsamen Dachverband mit Karnevalsverbänden gründet, und um den aus Sicht der Kritiker ausufernden „Narrentourismus“zu einer steigenden Zahl von Narrentreffen. Denn die Fasnacht sei eng verbunden mit dem eigenen Ort und müsse vor allem dort stattfinden. Die Nähe zum Karneval und die Abkehr von der heimischen Fasnacht bedeutete für einige Zünfte ein Sakrileg. „Das war der Grund, warum wir ausgetreten sind“, sagt Christian Filip, Sprecher der Hänselezunft Überlingen. Gemeinsam mit den Zünften aus Rottweil, Oberndorf und Villingen traten sie in den 1950er-Jahren aus dem Verband aus und gründeten den sogenannten Viererbund als eine Art elitärem Verband, der sich mehr auf die „alten Werte“berufen will als andere Zünfte.
Wer heute in Zünften wie der in Überlingen Mitglied werden will, durchläuft ein Bewerbungsverfahren. Dazu zählt eine „Kleidleabnahme“, bei der eine Kommission überprüft, ob das Häs sauber genäht ist und die Farben in der richtigen Reihenfolge verwendet wurden. Zudem müssen die Narren in spe nachweisen, dass sie mit der Karbatsche, einer Art Peitsche aus Hanffasern, schnellen können. „Da scheitern auch einige“, sagt Filip. Jedem Aspiranten wird ein Pate zugeteilt, der bestätigen muss, dass der Bewerber sich ausreichend mit der Tradition auskennt.
In Rottweil wird jedes Häs mit einer Plakette zertifiziert – ohne diese darf der Narr nicht am Narrensprung teilnehmen. Zeitweise unterzogen die Rottweiler ihre Bewerber sogar einem schwäbischen Sprachtest. Ein ganzes Regelwerk beschreibt das richtige Schuhwerk, die Farbe der Socken und die richtige Anzahl der Glockenriemen oder dass das Posieren als Hexe verboten ist. Die Elzacher Schuttige dürfen ihre Larve nicht in der Öffentlichkeit abziehen. Wer zum Essen die Maske abnehmen will, muss das in einem speziellen Zelt machen, zu dem nur Schuttige Zutritt haben – schließlich soll die Identität der Narren verborgen bleiben. „Es geht darum, den Brauch sauber der Nachwelt zu übergeben“, so Filip.
Mit Nachwuchsproblemen, wie viele andere Vereine, haben die Narrenzünfte nicht zu kämpfen. Die Zahlen der Hästrager wachsen stetig an. Doch es ist gerade die Beliebtheit der Fasnet, die den Erhalt der alten Bräuche so schwierig macht. Schon jetzt benötigen die Vorbereitungen für ein Narrentreffen, wie das des Viererbundes in Überlingen am kommenden Wochenende, mehrere Jahre. 5000 Häs-, Anzug- und Kleidleträger erwarten die Veranstalter. Dazu kommen noch
20 000 bis 30 000 Zuschauer. „Das ist eine logistische Meisterleistung“, sagt Filip. Ganz zu schweigen von Haftungsfragen und finanziellem Risiko. Daran, dass in den kommenden Jahrzehnten weiterhin die traditionelle Fasnet gefeiert werden wird, hat Filip keinen Zweifel. Doch ob bei steigenden Teilnehmerzahlen auch in Zukunft Narrentreffen in dieser Größenordnung stattfinden werden, stellt er infrage. „Irgendwann ist das nicht mehr stemmbar.“