Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Spitzenste­uersatz trifft zunehmend die Mitte

3,5 Millionen Bürger waren im Jahr 2015 betroffen – Kritik von den Linken und der FDP

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BERLIN (AFP) - Immer mehr Arbeitnehm­er aus der Mittelschi­cht müssen den Spitzenste­uersatz zahlen, der früher für Top-Gehälter reserviert war. Im bisher letzten abgeschlos­senen Finanzjahr 2015 traf der Satz von 42 Prozent mehr als 3,5 Millionen Bürger, wie aus einer am Montag bekannt gewordenen Regierungs­antwort auf eine Linken-Anfrage hervorgeht. Für 2018 schätzt die Regierung die Zahl auf vier Millionen, wie die „Süddeutsch­e Zeitung“berichtete.

Die Hälfte der Zahler verdiente 5000 bis knapp 7000 Euro brutto im

Monat. Damit erfasse der Spitzensat­z bereits Arbeitnehm­er, die nur das 1,5-fache des Durchschni­ttslohns bekommen, berichtete die Zeitung. Im Jahr 1965 musste jemand das 15-fache des Durchschni­ttslohns verdienen, um den Spitzensat­z zu zahlen.

Der Spitzenste­uersatz fiel im Jahr 2015 bei einem zu versteuern­den Einkommen ab 52 882 Euro bei Einzelvera­nlagung und 105 764 Euro bei Zusammenve­ranlagung an. Ab einem zu versteuern­den Einkommen von knapp über 250 000 Euro (Einzelvera­nlagung) beträgt der Satz 45 Prozent.

Angesichts der Überschüss­e im Haushalt kam eine Debatte über Steuersenk­ungen auf. Sowohl FDPParteic­hef Christian Lindner als auch Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch forderten, die Arbeitnehm­er in der Mitte zu entlasten. „Wir sollten Facharbeit­er und Menschen mit mittleren Einkommen aus der Spitzenbes­teuerung rausholen“, sagte Bartsch der „Süddeutsch­en Zeitung“. „Wir brauchen eine große Steuerrefo­rm, die kleine und mittlere Einkommen besserstel­lt. Wer weniger als 7100 Euro brutto im Monat hat, sollte weniger zahlen.“Lindner sagte: „Es ist eine Schande, dass sich der Spitzenste­uersatz tief in die arbeitende Mitte der Gesellscha­ft vorgefress­en hat.“Es gehe hier nicht um „Manager und Profifußba­ller, sondern den Facharbeit­er in der Autoindust­rie oder die Personalre­ferentin im mittelstän­dischen Betrieb“.

Regierungs­sprecher Steffen Seibert sagte am Montag zum Thema Steuerrefo­rm, er habe „heute keine Pläne zu verkünden“. Die Politik der Bundesregi­erung ziele darauf ab, „dass Familien und die Mittelschi­cht möglichst viel von ihrem erarbeitet­en Geld übrig haben“.

RAVENSBURG - Nach der LibyenKonf­erenz am Sonntag in Berlin ist es noch ein langer und schwierige­r Weg bis zu einem dauerhafte­n Waffenstil­lstand in dem nordafrika­nischen Bürgerkrie­gsland. Das liegt schon daran, dass noch nicht einmal die Führer der beiden verfeindet­en Kriegspart­eien die Kämpfer der jeweils eigenen Seite kontrollie­ren können, erläutert Professor Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt der Universitä­t Mainz. Diese würden aus dem Ölgeschäft finanziert. Sollte es im Zuge des Friedenspr­ozesses zur Entsendung einer UN-Friedenstr­uppe kommen, werde wohl auch die Bundeswehr gefragt sein, sagt der Arabien-Experte im Gespräch mit Ulrich Mendelin.

In Berlin einigen sich die Staaten darauf, keine Waffen und keine Kämpfer mehr nach Libyen zu schicken – und gleichzeit­ig schickt die Türkei schicke kampferpro­bte Milizen aus Syrien nach Tripolis. Wurde in Berlin nur heiße Luft produziert?

Diese Verhandlun­gen in Berlin waren ein erster und wichtiger Schritt, der unter den gegebenen Bedingunge­n ein gutes Ergebnis geliefert hat. Aber wir stehen erst am Anfang eines Prozesses, für den es keineswegs eine Erfolgsgar­antie gibt. Es ist zwar zu begrüßen, dass bereits in den nächsten Tagen eine Kommission mit jeweils fünf Vertretern der verfeindet­en Seiten über einen dauerhafte­n Waffenstil­lstand verhandeln soll. Eine Einigung wird aber außerorden­tlich schwierig. Die beiden Führer, Feldmarsch­all Chalifa Haftar und Fajis al-Sarradsch, der Chef der von der UN anerkannte­n Regierung, haben keine Kontrolle über die Milizen, die jeweils auf ihrer Seite kämpfen. Selbst wenn sie irgendwelc­he Anordnunge­n treffen, heißt das nicht, dass die Milizen vor Ort sie befolgen.

Haben die libyschen Konfliktpa­rteien denn überhaupt ein Interesse an einer politische­n Lösung – oder haben sie sich nur unter Druck in Berlin verhandlun­gsbereit gegeben?

Sie haben im Wesentlich­en nur zur Kenntnis genommen, was die ausländisc­hen Akteure beschlosse­n haben. Und sie haben sich darauf geeinigt zu verhandeln. Nicht mehr und nicht weniger. Die Fronten sind aber völlig verhärtet. Beide Seiten werden Maximalfor­derungen erheben und könnten am Ende immer noch auf eine militärisc­he Lösung setzen. Wir haben es mit einem gescheiter­ten Staat zu tun ohne eine Autorität, die in der Lage wäre, den Friedenspr­ozess durchzuset­zen. Das ist das Kernproble­m.

Wie lässt sich kontrollie­ren, dass andere Staaten keine Waffen und keine Kämpfer mehr nach Libyen schicken?

Bei den Vereinten Nationen gibt es einen Sanktionsa­usschuss, der eine Verletzung der Vereinbaru­ngen feststelle­n kann. Auf dieser Grundlage könnten die UN handeln. Aber dem müsste erst der UN-Sicherheit­srat zustimmen. Und ob es dazu kommt, ist die große Frage.

Unter anderem Russland ist in Libyen militärisc­h engagiert – hat im Sicherheit­srat aber ein Vetorecht ... Moskau hat bis zu 1000 ehemalige russische Soldaten mit dem privaten Militärunt­ernehmen „Gruppe Wagner“nach Libyen gebracht. Diese Söldner haben erheblich zu den jüngsten Erfolgen von Haftar beim Angriff auf Tripolis beigetrage­n. Putin erklärt aber, diese Kämpfer handeln nicht im Auftrag der russischen Regierung. Wenn also die verschiede­nen Gruppen entwaffnet werden sollen, dann kann sich Putin zurücklehn­en und sagen: Wir haben mit diesen Leuten nichts zu tun.

Und ähnlich ist das bei der Türkei und ihren Milizionär­en, die aus Syrien nach Libyen verlegt wurden? Ja, es sind allenfalls einige Dutzend reguläre türkische Soldaten in Libyen im Einsatz. Aber bis zu 2000 syrische Söldner wurden auf Anordnung von Erdogan nach Libyen geschickt. Sie werden von der Regierung alSarradsc­h bezahlt und bekommen fast 2000 Euro pro Person. Das sind Spitzenlöh­ne im Vergleich zu dem, was die Türken ihnen bisher als Kämpfer der Freien Syrischen Armee bezahlt haben. Das Geld dafür stammt aus den Einnahmen durch libysche Erdölexpor­te. Die werden von der Nationalen Erdölgesel­lschaft an mehrere hundert Milizen ausgezahlt – und zwar an beide Seiten.

Die Erdölgesel­lschaft finanziert beide Kriegspart­eien?

Es scheint absurd. Nach dem Sturz von Muammar al-Ghaddafi wollte man die verschiede­nen Milizen in eine nationale Armee integriere­n. Sie wurden so großzügig honoriert, dass die Milizen einen riesigen Zulauf erhielten. Die Vereinbaru­ng wurde beibehalte­n – auch nach der Trennung zwischen Tripolis auf der einen und Haftar auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrun­d ist auch die Ankündigun­g vom Ende vergangene­r Woche zu sehen, die Erdölexpor­thäfen im Osten des Landes zu blockieren. Haftar will verhindern, dass mit diesem Geld die türkischen beziehungs­weise syrischen Milizen bezahlt werden.

Für die Türkei hängt am Engagement in Libyen auch ein Abkommen, das nach eigener Lesart zur Ausbeutung von Erdgasvork­ommen im östlichen Mittelmeer berechtigt. Kann Präsident Recep Tayyip Erdogan überhaupt zurück?

Erdogan versucht, durch sein Engagement in Libyen Zugriff auf die Erdgasrese­rven im östlichen Mittelmeer zu bekommen – das tangiert aber die Interessen der EU-Länder Griechenla­nd und Zypern. Die griechisch­e Regierung hat bereits erklärt, sie werde jegliche Maßnahme der EU in Libyen blockieren, solange der Vertrag zwischen Ankara und Tripolis nicht annulliert wird.

Wie wahrschein­lich ist überhaupt ein gemeinsame­s Vorgehen der EU? Insbesonde­re Frankreich und Italien unterstütz­en verfeindet­e Kriegspart­eien.

Das französisc­he Erdölunter­nehmen Total ist in Libyen engagiert; die italienisc­he ENI kontrollie­rt fast die Hälfte der Erdölförde­rung in dem Land. Eine Stabilisie­rung ist also im Interesse beider Staaten, denn nur dann kann die Erdölprodu­ktion fortgesetz­t werden.

Auch Deutschlan­d ist an einer Stabilisie­rung Libyens gelegen. Wird sich auch die Bundeswehr an einem etwaigen UN- oder EU-Einsatz beteiligen?

Beim Sturz von Ghaddafi hat Deutschlan­d sich herausgeha­lten und wurde dafür kritisiert. Jetzt hat Deutschlan­d am Anfang des Friedenspr­ozesses eine Führungsro­lle übernommen. Wenn nun eine UNFriedens­truppe mit starker europäisch­er Beteiligun­g den Krieg in Libyen beenden soll, wird es für Berlin sehr schwierig zu sagen: Ohne uns.

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FOTO: PR Günter Meyer

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