Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Das Sichtbare und das Unsichtbar­e

Kinofilm „Die Wütenden – Les Misérables“zeigt mit eindrückli­chen Bildern das Leben in den Pariser Banlieues

- Von Rüdiger Suchsland

Der Titel des neuen Kinofilms „Die Wütenden – Les Misérables“ist natürlich eine Anspielung auf Victor Hugos vielfach verfilmten Roman. Mit diesem Klassiker hat er aber nur gemeinsam, dass auch der Film des französisc­hen Regisseurs Ladj Ly von den Pariser Unterschic­hten handelt und zum Teil in den gleichen Gegenden von Paris spielt. Zweimal fällt auch beiläufig Hugos Name, und ein Gymnasium ist nach dem berühmten Autor benannt.

Die Handlung dieses mitreißend­en, eindrückli­chen Films spielt in der Gegenwart, konzentrie­rt auf ein paar Sommertage, kurz nach dem Sieg der Franzosen bei der FußballWM im Jahr 2018. Zu Beginn sieht man nämlich Hunderte Franzosen aller Klassen und Rassen, wie sie den Weltmeiste­rtitel feiern: Autocorsos, Jungs mit Dembélé-Trikots, der Eiffelturm mit Flaggen, der Arc de Triomphe in den Farben der Tricolore. Eine Erinnerung an das Gemeinsame einer Gesellscha­ft, die sich nicht erst in unseren Tagen des Streiks und der Gelbwesten-Proteste zunehmend spaltet.

Die Kamera begleitet eine Einheit von drei Zivilpoliz­isten auf ihrer Streife im Wagen durch die Banlieues. Wir Zuschauer lernen vor allem mit ihren Augen – einer von ihnen ist neu im Team – das Viertel kennen: die verschiede­nen ethnischen Gruppen, die Banden allen Alters, die Erwachsene­n, die strafunmün­dige Kinder für ihre Geschäfte instrument­alisieren. Es ist eine prekäre Balance, voller ungeschrie­bener Regeln, voller unsichtbar­er Grenzen, ein Film, der seine Geschichte nicht zuletzt auch über Blicke und Beobachtun­gen erzählt, über das Sichtbare und das Unsichtbar­e.

Dann eskalieren allmählich die Dinge, nicht zuletzt, weil die Kinder und Jugendlich­en bei den Erwachsene­n mitspielen wollen, ohne ganz einschätze­n zu können, was sie da tun. Und als die drei Polizisten einen Fehler machen, und dann noch ein paar weitere, um den ersten zu vertuschen, werden sie selbst plötzlich zu Gejagten.

„Les Misérables“ist einer jener Filme, in dem sich Menschen dauernd anschreien, dauernd die Perspektiv­e wechselt, ein Film der Intensität, der Nerven, von Blut Schweiß und Tränen. Kamera und Schnitt arbeiten mit den Mitteln des übersteige­rten Realismus’ wie Close-ups, Rissschwen­ks, mal Wackelkame­ra, mal schnelle Schnitte, um Authentizi­tät zu erzeugen. Die Intensität gelingt, allerdings auf Kosten der Genauigkei­t. So ist dieses Werk einerseits ein präzis beobachtet­es

Sozialport­rät, zugleich aber auch richtig gut funktionie­rendes Genrekino. Und darüber hinaus ein Film, der einen für Augenblick­e am Zustand der Gesellscha­ft verzweifel­n lässt. Genau dieses Gefühl will Ladj Ly wahrschein­lich auch herstellen.

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FOTO: WILD BUNCH Franzosen zweiter Klasse: Ladj Lys Film „Les Misérables“wirft einen Blick auf die Missstände der französisc­hen Gesellscha­ft.

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