Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Angeklagt für 330 sexuelle Übergriffe
Gruppenleiter von Pfadfindern soll jahrelang seine Macht ausgenutzt haben
FREIBURG (dpa) - Der Angeklagte trägt Hand- und Fußfesseln. Sein Gesicht verbirgt er, als er den Gerichtssaal betritt, mit einer grauen Jacke: Wegen hundertfachen sexuellen Kindesmissbrauchs muss sich seit Montag ein ehemaliger Betreuer von Pfadfindern vor dem Landgericht Freiburg verantworten.
Dem 42-jährigen Deutschen werden 330 sexuelle Übergriffe zur Last gelegt, wie Staatsanwältin Nikola Novak zum Prozessauftakt sagte. Der ehemalige Leiter einer evangelischen Pfadfindergruppe in Staufen bei Freiburg habe sich von Januar 2010 bis August 2018 hundertfach an vier Jungen vergangen. Diese waren damals sieben bis 14 Jahre alt.
Bei den Pfadfindern sei er als Kirchenmitarbeiter für die Betreuung von Grundschulkindern zuständig gewesen, erklärte der Mann, der nach Verlesung der Anklage öffentlich zu seiner Person aussagte. Angaben zu den Missbrauchsvorwürfen machte er unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie sein Verteidiger Stephan Althaus mitteilte. Gegenüber der Polizei habe er bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt.
Nach Überzeugung der Staatsanwältin nutzte der Mann seine Rolle als Gruppenleiter bei den Pfadfindern aus. Er habe Kinder vergewaltigt und anderweitig sexuell missbraucht. Pro Opfer habe es mehrere Übergriffe wöchentlich gegeben. Um nicht entdeckt zu werden, habe er die Jungen massiv unter Druck gesetzt und ihnen gedroht. Erst als sich acht Jahre nach der ersten Tat einer der Jungen den Eltern anvertraute, wurden die Verbrechen bekannt. Die vier Opfer seien schwer traumatisiert und litten bis heute.
Wegen Kindesmissbrauchs stand der Mann schon einmal vor Gericht. 2004 bis 2007 wurde gegen ihn laut Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts des Kindesmissbrauchs ermittelt. Es habe damals jedoch Aussage gegen Aussage gestanden, das Landgericht Freiburg sprach den Mann frei. Die Kirche beschäftigte ihn danach bei den Pfadfindern weiter, wie er am Montag sagte. Gespräche über den Vorwurf des Kindesmissbrauchs oder Auflagen habe es durch die Kirche nicht gegeben. Er habe, wie schon zuvor, als Gruppenleiter
Grundschulkinder betreut. Hinweise auf Fehler bei der Kirche, für die der Mann arbeitete, gebe es nicht, sagte die Staatsanwältin. Es werde daher nicht gegen die Kirche ermittelt. Nach Bekanntwerden des Falls hatte die evangelische Kirche angekündigt, die Fälle möglichst schnell aufklären zu wollen und daraus Lehren zu ziehen. Ergebnisse wurden bislang nicht bekannt.
Von 1999 bis 2011 war der Kirchenmitarbeiter der Anklage zufolge mit drei Jahren Unterbrechung Gruppenleiter der evangelischen Pfadfindergruppe in Staufen. Dort habe er zwei der Opfer kennengelernt. Zu den beiden anderen Jungen habe er
Kontakt über Freizeitaktivitäten sowie auf einem Campingplatz gehabt. Der gelernte Krankenpfleger wurde vor knapp einem Jahr festgenommen. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft.
„Es ist davon auszugehen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt“, sagte die Staatsanwältin mit Blick auf den Angeklagten. Sie hatte nun ursprünglich 676 sexuelle Übergriffe angeklagt. Das Gericht ließ jedoch lediglich 330 Fälle zu. Alle Übergriffe beziehen sich auf die vier Jungen und die Zeit zwischen 2010 und 2018. Nur diese ließen sich als Vorwürfe belegen, wie ein Gerichtssprecher sagte. Sie werden nun verhandelt.
Das Gericht werde neben einer Haftstrafe anschließende Sicherungsverwahrung prüfen müssen, sagte Novak am Rande des Prozesses gegenüber Journalisten. Eine Gefahr für die Allgemeinheit müsse ausgeschlossen werden.
Auch ein 28-Jähriger – ebenfalls Betreuer der Pfadfindergruppe in Staufen – steht den Behörden zufolge im Verdacht des sexuellen Missbrauchs von zwei Jungen. Die Ermittlungen gegen ihn laufen noch, wie eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft sagte.
Staufen südlich von Freiburg war bereits wegen anderer Sexualverbrechen an einem Jungen in den Schlagzeilen gewesen. Einen Zusammenhang mit den Missbrauchsvorwürfen bei den Pfadfindern gibt es den Angaben zufolge nicht.
Der Prozess wird am Mittwoch (22. Januar) fortgesetzt. Das Gericht hat zunächst sieben Verhandlungstage angesetzt. Ein Urteil könnte es demnach am 18. Februar geben.