Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Millionen mit Nebenjobs
Fast jeder Zehnte hat mehrere Beschäftigungen
BERLIN (dpa/AFP) - Schwindende Tarifverträge, finanzielle Schwierigkeiten und besondere Konsumwünsche: Die Zahl der Menschen mit Nebenjobs in Deutschland ist auf einen neuen Rekord gestiegen. Ende Juni 2019 zählte die Bundesagentur für Arbeit (BA) gut 3,5 Millionen Mehrfachbeschäftigte, wie am Dienstag bekannt wurde. Das waren 3,6 Prozent mehr sogenannte Multijobber als ein Jahr zuvor und 9,2 Prozent aller 38,3 Millionen Beschäftigten.
Die meisten Mehrfachjobber hatten demnach einen sozialversicherungspflichtigen Hauptjob und mindestens eine zusätzliche geringfügige Beschäftigung. Knapp drei Millionen Menschen arbeiteten in dieser Konstellation. Mehr als 345 400 Menschen gingen 2018 zwei sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen nach. Dritthäufigste Variante war die Kombination von zwei oder mehr Minijobs. Dies galt für etwa 260 700 Fälle.
Von Mischa Ehrhardt
GFRANKUFRT - Für eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern in Deutschland reichen die Einkünfte aus einem Job offenbar nicht aus, um gut über die Runden zu kommen. Mittlerweile sind es mehr als 3,5 Millionen Menschen, die mindestens zwei Jobs nachgehen. Das sind rund neun Prozent aller erwerbstätigen Menschen in Deutschland. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Mehrfachjobber noch einmal um fast vier Prozent gestiegen. Das geht aus einer Anfrage der Linken bei der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg hervor.
Dabei ist das häufigste Modell ein sozialversicherungspflichtiger Job mit einem zusätzlichen Minijob. „Dabei können wir feststellen, dass Menschen mit einem Nebenjob in ihrem Hauptjob noch ein gutes Stück weniger verdienen als andere Menschen, die nur einen Job ausüben“, sagt Enzo Weber. Er ist Forschungsleiter des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. „Das deutet darauf hin, dass es unter den Nebenjobbern relativ viele gibt, die auf das zusätzliche Geld angewiesen sind, weil es im Hauptjob einfach nicht reicht.“
Zwar ist der Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren kräftig gewachsen. Allerdings stellen Wirtschaftsforscher auch fest, dass die Zahl an Nebenjobs überproportional zugenommen hat. Einen sprunghaften Anstieg von Mehrfachjobbern hatte es im Zuge der Hartz-Reformen ab dem Jahr 2003 gegeben. Seither hat sich die Zahl der Menschen, die mehr als einer Beschäftigung nachgehen, grob verdoppelt. Lag sie im Jahr 2004 noch bei nur 1,86 Millionen, ist sie im vergangenen Jahr auf 3,54 Millionen Mehrfachjobber gestiegen.
Denn im Zuge der Arbeitsmarktreformen wurde die Verdienstgrenze für Minijobs angehoben und die heute 450-Euro-Jobs von der Sozialversicherungspflicht und Einkommensteuer befreit. Das erhöht bei dieser Art geringfügiger Beschäftigung das Nettoeinkommen. „Der erste Minijob, den sie nebenbei ausüben, ist komplett steuer- und abgabenfrei. Eine solche Begünstigung wollen viele Menschen wahrnehmen. Deswegen steigt die Zahl der Nebenjobs auch schon seit vielen Jahren wie an der Schnur gezogen“, meint Enzo Weber.
Das sieht auch Sebastian Graf so. Er hat als Mitautor an einer Studie zu
Mehrfachjobbern für die Hans-Böckler-Stiftung gearbeitet. Zwar sei einer der Hauptgründe für Mehrfachbeschäftigung die Verbesserung des Einkommens insgesamt. Befragte gaben aber auch an, sich durch Nebentätigkeiten bestimmte Wünsche erfüllen zu wollen. „Gerade 450-EuroJobs sind ein lukratives Instrument, möglichst schnell und einfach das eigene Gehalt aufzustocken oder sich auch mal etwas Besonderes leisten zu können.“Seiner Studie zufolge finden sich Nebenjobs vor allem im Bereich ungelernter Tätigkeiten mit niedrigen Qualifikationsanforderungen.
Vor allem Frauen betroffen
Nach Meinung der Experten am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung begünstigt auch der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft die Zunahme von Nebenjobs. Denn zum einen seien die Anforderungen im Dienstleistungsbereich häufig weniger hoch als im industriellen Sektor; zum anderen seien viele Tätigkeiten in kleinere Jobs teilbar. In einer Analyse aus dem Jahr 2017 haben sie zudem festgestellt, dass Frauen überdurchschnittlich häufig Zweitjobs nachgehen. Zudem seien oft Personen betroffen, die im Hauptberuf etwa in Verwaltung und Büro, im Gesundheitswesen oder in Sozialund Erziehungsberufen tätig sind.
Die höchste Wahrscheinlichkeit auf Nebenjobber zu stoßen, liege demnach im untersten Lohnbereich. Mit steigendem durchschnittlichem Tageslohn sinkt die Wahrscheinlichkeit rasch. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat sich besorgt über den Anstieg von Mehrfachbeschäftigung in Deutschland geäußert. „Nicht jede Form von Nebenbeschäftigung ist schon ein sozialer Skandal, aber es gibt Bereiche, da muss uns das mit Sorge umtreiben“, sagte Heil am Dienstag in Berlin. Man müsse über den „sehr festen Sockel von Niedriglöhnen“in Deutschland reden.
Die Anfrage zu den aktuellen Zahlen zu Mehrfachjobbern bei der Bundesarbeitsagentur hatte die Arbeitsmarktexpertin der Linken, Sabine Zimmermann, gestellt. Sie forderte, den Mindestlohn „in einem ersten Schritt auf zwölf Euro die Stunde“zu erhöhen. Akutell liegt dieser bei 9,35 Euro die Stunde. Darüber hinaus solle Leiharbeit beendet und die Möglichkeit für sachgrundlos befristete Arbeitsverhältnisse abgeschafft werden, so Zimmermann.