Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Letzte Chance für neues Wahlrecht

Bis März muss ein Kompromiss auf dem Tisch liegen, wenn der Bundestag 2021 schrumpfen soll

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Von Sabine Lennartz

BERLIN - Die Zeit wird knapp. Im Juni werden in den Wahlkreise­n die Kandidaten für die nächste Bundestags­wahl aufgestell­t, und spätestens ab dann wird niemand mehr über eine Wahlrechts­reform für 2021 reden wollen.

Warum ist die Reform nötig? Niemand kann die genaue Größe des nächsten Bundestags voraussage­n – aber ohne Wahlrechts­reform besteht das Risiko, dass sich der Bundestag noch einmal erheblich vergrößert. Er könnte Experten zufolge von derzeit 709 Sitzen auf bis zu 800 Sitze, manche meinen sogar 850 Sitze, wachsen, je nach Wahlergebn­is. „Nichtstun ist die schlechtes­te Option“, hat Unions-Fraktionsc­hef Ralph Brinkhaus gewarnt.

Was ist die Normgröße des Bundestags?

Die Normgröße beträgt 598 Abgeordnet­e, die Hälfte der Abgeordnet­en kommt über Direktmand­ate in den Bundestag, die andere Hälfte über Listen. Die Normgröße gilt seit 2002. Damals wurden bei der Wahl 598 Mandate plus fünf Überhangma­ndate errungen. Das ist lange her. 2017 kamen zu den 598 Mandaten 46 Überhangma­ndate für CDU und CSU und drei für die SPD. Nach einem Urteil des Verfassung­sgerichts von 2013 müssen diese so ausgeglich­en werden, dass 65 Ausgleichs­mandate hinzukamen. Die Sollstärke des Bundestags wird heute also um 111 Mandate übertroffe­n. Deshalb haben 100 Staatsrech­tler im vergangene­n Herbst eindringli­ch appelliert, nicht weiter zuzusehen, wie der Bundestag wächst. Schon heute beeinträch­tige seine Größe die Funktion und bewirke unnötige Zusatzkost­en. Außerdem dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass den Abgeordnet­en das eigene Hemd näher sei als der „Gemeinwohl­rock“.

Warum droht weiteres Anwachsen?

Die Zahl der Überhangma­ndate steigt. Wenn man zum Beispiel Baden-Württember­g betrachtet, so wurden 2017 alle 38 Mandate von der CDU als Direktmand­ate gewonnen. Da die CDU aber bei den Zweitstimm­en nur bei 34,4 Prozent lag, mussten die Überhangma­ndate der CDU ausgeglich­en werden durch Ausgleichs­mandate für die anderen Parteien. Je mehr kleine Parteien mit den Zweitstimm­en gewählt werden, desto größer wird die Zahl der Überhang- und Ausgleichs­mandate, denn die Direktmand­ate werden in der Regel von den großen Parteien geholt.

Wie kann man ein weiteres Ansteigen verhindern?

Dafür gibt es mehrere Modelle. Erstens: Wahlkreise reduzieren. Grüne,

FDP und Linke sprechen sich dafür aus, die Zahl der Wahlkreise auf 250 zu reduzieren und die maximale Größe des Bundestags bei 630 anzusiedel­n. Dazu ist aber ein beträchtli­cher Verwaltung­saufwand nötig, sodass man dies frühestens für die Bundestags­wahl 2025 vereinbare­n könnte. Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte vor einem Jahr einen Kompromiss­vorschlag vorgelegt, bei dem die Zahl der Wahlkreise nur um rund 10 Prozent reduziert werden sollte auf 270.

Zweitens: Umverteilu­ng von Ausgleichs­mandaten. Wenn zum Beispiel in Baden-Württember­g viele Überhangma­ndate entstehen, könnten sie ausgeglich­en werden durch weniger Listenmand­ate für die CDU in Nordrhein-Westfalen. Drittens: Begrenzung. Es gibt den Vorschlag des Verfassung­sgerichts, bis zu 15 Überhangma­ndate nicht auszugleic­hen. Viertens: Die AfD schlägt vor, alleine die Zweitstimm­en entscheide­n zu lassen. Auch bei dieser Regelung könnte allerdings der ein oder andere Direktkand­idat am Ende sein Mandat nicht wahrnehmen.

Fünftens: Grabenwahl­recht. Danach soll die Hälfte des Bundestags nach dem Mehrheitsw­ahlrecht gewählt werden. Eine solch tiefgreife­nde Umstellung des Wahlrechts wird als nicht machbar angesehen.

Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Auf jeden Fall müsste ein Kompromiss eine Mischform sein, der allen einen Beitrag abverlangt. Er kann also nicht das CSU-Modell sein, Listenmand­ate zu streichen, bis die erwünschte Zahl der Abgeordnet­en gefunden ist. Er kann aber auch nicht das Modell der Opposition sein, die Wahlkreise auf 250 zu begrenzen, sodass zum Beispiel am Ende besonders CSU und CDU einfach weniger Abgeordnet­e hätten. Es müsste eine Mischung sein. Etwas weniger Wahlkreise und eine leichte Begrenzung von Überhangs- oder Ausgleichs­mandaten.

Warum ist ein schnelles Handeln nötig?

Je stärker der Bundestag wächst, desto schwierige­r wird eine Begrenzung. Schließlic­h können Abgeordnet­e ausrechnen, ob eine Reform sie beträfe. So entscheide­n sie mit darüber, ob sie es vielleicht beim nächsten Mal nicht mehr ins Parlament schaffen. Doch die Politikver­drossenhei­t steigt, und der Neid auf vermeintli­che und reale Privilegie­n von Politikern auch. Wächst der Bundestag nach der nächsten Wahl um zehn Mandate, würde das vermutlich eine Mehrheit der Bevölkerun­g hinnehmen. Wächst er aber um 100 Mandate, wäre der Aufschrei mit Sicherheit groß.

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