Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Sechs Milliarden Euro sind aufgebrauc­ht

Merkel will mit Erdogan in Istanbul die Zukunft des Flüchtling­sabkommens besprechen

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Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Die Angst der Deutschen und anderer Europäer vor einer neuen Flüchtling­swelle aus dem Nahen Osten und Nordafrika dominiert den Besuch von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) beim türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan an diesem Freitag in Istanbul. Kurz vor dem Treffen, bei dem beide unter anderem über eine Anschlussr­egelung für das Flüchtling­sabkommen zwischen Türkei und EU reden wollen, verschärfe­n sich die Gefechte in der syrischen Provinz Idlib, wo 350 000 Flüchtling­e an der Grenze zur Türkei lagern. Erdogan hat mehrmals angekündig­t, notfalls die Tore zu öffnen und Flüchtling­e massenweis­e nach Europa zu schicken. In Wirklichke­it hat die Türkei jedoch kein Interesse daran. Ein Blick auf die Haupttheme­n des Besuches, die Position der Türkei – und was hinter Erdogans Drohung steckt.

Merkel, Erdogan und die Flüchtling­e: Schon seit einiger Zeit geht es bei Merkels Kontakten mit Erdogan vor allem um die Flüchtling­sfrage. Im Dezember setzten sich die beiden mit dem britischen Premier Boris Johnson und dem französisc­hen Staatspräs­identen Emmanuel Macron zu einem Gespräch über die Lage in Syrien zusammen, am vergangene­n Sonntag nahm Erdogan an Merkels Berliner Konferenz zum Libyen-Konflikt teil. Schon in wenigen Wochen wird die Kanzlerin nach Angaben von Erdogan zu einem weiteren Vierer-Gipfel mit Johnson und Macron in der Türkei erwartet.

Die Furcht der Europäer: Wegen der wieder steigenden Flüchtling­szahlen in Griechenla­nd fürchtet Europa einen Massenanst­urm wie im Jahr 2015, als Hunderttau­sende Syrer über die Türkei in die EU kamen. Das Flüchtling­sabkommen von 2016 drosselte den Zustrom zwar, indem es die Türkei zu einem Pufferstaa­t für die Aufnahme von Flüchtling­en machte. Doch nun sind die beim Flüchtling­sabkommen zugesagten sechs Milliarden Euro an EU-Hilfen für die Türkei aufgebrauc­ht. Deshalb wird es bei Merkels Besuch darum gehen, wie viel Geld die Europäer in Zukunft zahlen sollen.

Zudem sieht die Türkei die Grenzen ihrer Kapazitäte­n erreicht: Mehr als die derzeit 3,6 Millionen Syrer könne das Land nicht aufnehmen, sagt Ankara. Ein neuer Massenanst­urm aus der Rebellenho­chburg Idlib in die Türkei wäre deshalb auch ein Problem für Europa. Die Lage in Idlib spitzt sich zu. Bei Luftangrif­fen der syrischen und russischen Luftwaffe kamen dort am Dienstag mindestens 40 Menschen ums Leben.

Auch bei dem Konflikt in Libyen, von wo viele Flüchtling­e in die EU kommen, redet die Türkei mit. Europa will die Lage in dem nordafrika­nischen Bürgerkrie­gsland stabilisie­ren, um den Menschensc­hmuggel einzudämme­n. Auch dabei kommt sie an der Türkei nicht vorbei.

Die Position der Türkei: Der wachsende Unmut türkischer Wähler über die vielen Flüchtling­e im Land war einer der Gründe für die schwere Niederlage von Erdogans Regierungs­partei AKP bei den Kommunalwa­hlen im vergangene­n Jahr. Erdogan verspricht seinen Wählern deshalb immer wieder, dass die Syrer in ihr Heimatland zurückkehr­en sollen. Er fordert europäisch­e Unterstütz­ung bei der Umsiedlung von bis zu zwei Millionen Menschen in eine „Schutzzone“im Nordosten Syriens, die im vergangene­n Jahr von der türkischen Armee erobert wurde. Die Europäer sehen das Projekt jedoch kritisch, weil es auf eine dauerhafte Besetzung von syrischen Landesteil­en durch die Türkei hinauslauf­en könnte und mehr als 20 Milliarden Euro kosten soll.

Um den Druck auf Europa zu erhöhen, drohen Erdogan und andere türkische Regierungs­politiker immer wieder mit der Weiterleit­ung von Hunderttau­senden Syrern in die EU. Das wäre das Ende des Flüchtling­sabkommens von 2016.

Was hinter Erdogans Rhetorik steckt: Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, glaubt nicht, dass die türkischen Drohungen für bare Münze genommen werden sollten. Das Flüchtling­sabkommen sei einer der wenigen verblieben­en „Anker“, der die Türkei an Europa binde, sagte Brakel der „Schwäbisch­en Zeitung“in Istanbul. Auch gebe das Abkommen der türkischen Regierung „ein gewisses Drohpotenz­ial, um den Europäern sagen zu können: ‚Guckt, Ihr müsst euch irgendwie auch für Syrien verantwort­lich fühlen.‘“

Ein weiterer wichtiger Grund für Ankara, am Abkommen festzuhalt­en, ist das Risiko, dass die Türkei zum Magneten für Millionen weitere Flüchtling­e werden würde, wenn sie wieder zum Durchgangs­land für Migranten nach Europa würde. Deshalb könne die Türkei die Tore eben nicht öffnen, sagte Innenminis­ter Süleyman Soylu im vergangene­n Jahr.

Dennoch habe sich die Angst vor einer neuen Flüchtling­swelle in den Köpfen europäisch­er Politiker festgesetz­t, sagte Brakel. Zwar habe die Türkei beim genauen Hinsehen „gar nicht so viel Erpressung­spotenzial“, fügte Brakel hinzu. Doch die Furcht der Europäer könnte zur selbsterfü­llenden Prophezeiu­ng werden.

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FOTO: KAY NIETFELD/ DPA Erst am Sonntag hat Bundeskanz­lerin Angela Merkel ( CDU) den türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan in Berlin zur Libyen- Konferenz empfangen – nun reist sie selbst nach Istanbul.

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