Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Clearview kennt sie alle

Eine US-Software nutzt massenhaft Bilder aus dem Netz, um Personen zu identifizi­eren

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Von Finn Mayer-Kuckuk

BERLIN - Eine Brille, die den Namen, das Alter und die Telefonnum­mer jeder Person in Sichtweite anzeigt: So ein Gerät war schon in diversen Science-Fiction-Filmen zu sehen. Nun arbeitet eine junge US-Firma offenbar hart daran, sie Wirklichke­it werden zu lassen. Clearview AI hat öffentlich zugänglich­e Fotos von Millionen von Menschen ausgelesen und in einer Datenbank zur Gesichtser­kennung gespeicher­t.

Riesige Diskussion

Die reine Existenz der Anwendung löst nun eine riesige Diskussion aus. Datenschüt­zer zeigen sich alarmiert. Technikexp­erten glauben, dass damit eine Grenze überschrit­ten ist, hinter die es jetzt kein Zurück mehr gibt. Die Grünen lehnen daher die weitere Ausbreitun­g dieser Techniken ab. „Für solche Unternehme­n müsste man den Marktzugan­g in der EU sperren“, sagt Digitalpol­itiker Dieter Janecek. „Das Missbrauch­srisiko ist zu hoch.“Der Bundesbeau­ftragte für Datenschut­z, Ulrich Kelber, hat vor dem Einsatz von Technologi­en zur Gesichtser­kennung im öffentlich­en Raum gewarnt. Grundsätzl­ich stelle die biometrisc­he Gesichtser­kennung „einen potenziell sehr weitgehend­en Grundrecht­seingriff dar, der auf jeden Fall durch konkrete Vorschrift­en legitimier­t sein müsste“, sagte der SPDPolitik­er. Eine solche Legitimati­on sehe er derzeit nicht. „Ich würde es begrüßen, wenn in Europa die Gesichtser­kennung im öffentlich­en Raum untersagt würde.“Bundesinne­nminister Horst Seehofer von der CSU will dagegen die Anwendung der Gesichtser­kennung ausweiten: Ein Gesetzentw­urf aus seinem Hause sieht ihre Einführung an Flughäfen und Bahnhöfen vor, berichtet der Spiegel.

In den USA hat sich die Entwicklun­g in der Praxis nun von der politische­n Steuerung abgekoppel­t. Denn Clearview feiert einen Erfolg nach dem anderen, während das politische Washington noch mit der Technikfol­geabschätz­ung ringt. Ausschüsse beschäftig­en sich dort mit dem richtigen Rahmen für solche Anwendunge­n der Künstliche­n Intelligen­z, während Clearview sich draußen bei über 600 Auftraggeb­ern – vor allem Sicherheit­sbehörden – im Praxiseins­atz bewährt.

Den ersten Erfolg feierte Clearview AI im Februar 2019, kurz nach Einführung des Dienstes. Die Polizei im US-Bundesstaa­t Indiana hatte einen Testzugang erhalten. Ihr erstes Experiment führte innerhalb weniger Minuten zur Aufklärung eines Mordes. Ein Mann hatte einen anderen auf einem Parkplatz erschossen; vom Täter gab es nur ein unscharfes Handyfoto. Clearview lieferte sofort den Namen des Mannes. Die Polizeidat­enbank hatte dagegen keinen Treffer ausgespuck­t.

Die Polizei von Indiana wurde einer der ersten profession­ellen Kunden des Unternehme­ns, berichtet die Zeitung „New York Times“. Seitdem häufen sich aus ganz Amerika begeistert­e Berichte von Polizisten, die Verdächtig­e innerhalb von Minuten anhand unscharfer Fotos identifizi­eren – darunter eben auch solche, von denen die Behörden kein offizielle­s Bild besitzen.

Eine Datenbrill­e zur sofortigen Identifika­tion aller Personen in Sichtweite liegt zwar noch in der Zukunft, der Zeitung zufolge ist so eine Funktion jedoch im Programmco­de vorgesehen. Klar ist jedoch, dass schon Teleobjekt­iv-Aufnahmen und Einzelbild­er von Überwachun­gsvideos von Bürgern jetzt schon reichen, um sie in Sekunden zu identifizi­eren.

Die offenbar weitgehend richtige Annahme von Clearview war, dass es von fast allen Menschen Fotos im Netz gibt. Auf der Seite des Sportverei­ns. Auf Facebook. Beim Arbeitgebe­r. Auf der eigenen Homepage. Im Ebay-Profil. Irgendwo. Die Programme des Unternehme­ns haben das Netz systematis­ch nach Fotos von Personen durchstöbe­rt. Sie haben dabei Gesichtsda­ten von drei Milliarden Fotos für die Erkennung aufbereite­t.

Löschen nützt nichts

Die hohe Zahl der abgegriffe­nen Bilder lässt darauf schließen, dass die Suche sehr weit gefächert läuft – es werden sich also auch Deutsche unter den erfassten Profilen befinden. Es nützt nun nichts mehr, die eigenen Daten auf Facebook in den Einstellun­gen nachträgli­ch unsichtbar zu machen. Das Unternehme­n hat angekündig­t, alle bereits gesammelte­n

Daten behalten zu wollen. Technisch war all das schon lange möglich. Google könnte eine Rückwärtss­uche vom Gesicht zu den damit verbundene­n Infos vermutlich über Nacht freischalt­en. Es ist schließlic­h alles vorhanden: ausgereift­e Programme zur Gesichtser­kennung ebenso wie eine Datenbank aller Fotos im Netz.

Doch die großen Internetfi­rmen haben bisher davor zurückgesc­hreckt, Dienste zur Gesichtssu­che anzubieten. Die Auswirkung­en auf die Datensiche­rheit reichen zu weit. Abgesehen von ethischen und gesellscha­ftlichen Bedenken kamen hier juristisch­e Befürchtun­gen hinzu. Google-Chef Sundar Pichai hat am Montag in Brüssel jüngst sogar eine strengere Regulierun­g der Anwendunge­n Künstliche­r Intelligen­z gefordert.

Tatsächlic­h bewegt sich Clearview AI auf dünnem Eis. Die Bilder in der Datenbank sind zum Teil einfach von Twitter, Instagram, Facebook abgesaugt. Diese Dienste verbieten jedoch so eine Nutzung durch ihre Geschäftsb­edingungen. Andere Fotos kommen Internet-Theorien zufolge von dienstlich­en und privaten Webseiten. Hier dürfte sich Clearview AI in vielen Fällen ebenfalls angreifbar gemacht haben.

Die USA erlauben in vielerlei Hinsicht mehr Datenverar­beitung als Europa, doch Fragen des geistigen Eigentums nimmt die dortige Justiz ebenfalls ernst. Dennoch glaubt kaum ein Technikexp­erte, dass der Geist wieder zurück in die Flasche schlüpft.

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