Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der Richter und seine „unschuldig­en Angeklagte­n“

Beim DFB-Sportgeric­ht ist Hans E. Lorenz eine Institutio­n – Aber wie kommt es zu den Urteilen und sind die Bundesliga-Spieler nachtragen­d?

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FRANKFURT (dpa) - Bei einem Champions-League-Spiel saß Hans E. Lorenz mal hinter Mark van Bommel auf der Tribüne, in der Halbzeit sprach er ihn an. Eine Visitenkar­te schloss die Erinnerung­slücke beim einstigen Oranje-Star und BayernRaub­ein. Vor dem Sportgeric­ht des Deutschen Fußball-Bundes waren sich die beiden früher schon begegnet. „Ach, Sie waren das?“, fragte van Bommel freundlich und hob die Arme: „Ich war immer unschuldig.“Der langjährig­e Vorsitzend­e Richter lächelte: „Das ist unser Schicksal. Wir verhandeln nur mit Unschuldig­en.“

In Wahrheit läuft bei Lorenz alles zusammen, was in der Bundesliga ungeklärt oder unrecht ist: Üble Fouls, Fan-Randale, auch mal ein Phantomtor, Einsprüche gegen Spielwertu­ngen, Beleidigun­gen von Schiedsric­htern durch Profis oder Trainer. Seit 2007 ist der 68-Jährige „Richter des Fußballs“, wie das „Handelsbla­tt“titelte.

Zuletzt verurteilt­en Lorenz und das DFB-Sportgeric­ht Schalke-Keeper Alexander Nübel nach dessen Kung-Fu-Tritt gegen Frankfurts Mijat Gacinovic zu vier Spielen Sperre. Und Eintracht-Profi David Abraham zu einer siebenwöch­igen Zwangspaus­e, weil er Freiburgs Trainer Christian Streich an der Seitenlini­e zu Boden gecheckt hatte.

Manch einer hat die unterschie­dlichen Strafen nicht verstanden, Lorenz klärt gerne auf: „Abraham ist wegen einer Tätlichkei­t verurteilt worden, Tätlichkei­t bedeutet in der Regel sechs Wochen bis sechs Monate. Nübel wurde verurteilt wegen rohen Spiels, das war ein Zweikampf um den Ball. Strafrahme­n zwei Wochen bis sechs Monate.“Und wenn Gacinovic oder Streich sich dabei schwer verletzt hätten, dann wären die Sperren noch länger ausgefalle­n.

Nach Verhandlun­gen in der Frankfurte­r DFB-Zentrale darf Lorenz manchmal Schlagzeil­en lesen wie „Skandalurt­eil“, wahlweise „Unsinnsurt­eil“oder „Irrsinnsur­teil“. Er trägt's mit Humor und sagt: „Mir ist immer noch nicht klar geworden, was schlimmer ist.“

In der oft aufgeheizt­en FußballWel­t lässt er sich nicht verrückt machen. Lorenz war vor seiner Pensionier­ung Vorsitzend­er Richter der Großen Strafkamme­r am Landgerich­t Mainz, beim DFB ist der Jurist aus dem rheinhessi­schen Wöllstein ehrenamtli­ch tätig. Als Strafricht­er hat er schon über ganz andere Dinge urteilen müssen: Die Wormser Prozesse um Kinderschä­ndung in den Neunzigerj­ahren zum Beispiel. Und oft über Mord, Totschlag oder Raub.

Dies gilt auch für das DFB-Sportgeric­ht, wo es bislang nie um Leben oder Tod ging. Der Vorsitzend­e Richter macht schon mal einen lockeren Spruch, auch wenn das den Stars der Fußballsze­ne sauer aufstößt. Als im Jahr 2013 das Phantomtor von Stefan Kießling, der beim Spiel in Hoffenheim durch ein Loch im Netz von außen ins Tor geköpft hatte, verhandelt wurde, begrüßte Lorenz den von Bundestrai­ner Joachim Löw verschmäht­en Leverkusen­er Stürmer mit den Worten: „Jetzt haben Sie endlich mal eine Einladung vom DFB bekommen.“Kießlings Miene gefror.

Lorenz ist seit 35 Jahren Richter. Während seines Jurastudiu­ms drehte er Filme, interviewt­e auch mal den jungen Jürgen Klopp und moderierte für den SWR in Mainz. Seine Entertaine­rqualitäte­n demonstrie­rt er schon mal bei DFB-Verhandlun­gen. Die Rollen scheinen klar verteilt: Da der besonnene Lorenz, dort oft der wortgewalt­ige Fußballanw­alt Christoph Schickhard­t, der in mehreren hundert Fällen für verschiede­ne Bundesliga-Clubs stritt. Und als Dritter im Bunde Anton Nachreiner.

Der DFB-Chefankläg­er, Vorsitzend­er des Kontrollau­sschusses, mimt den harten Hund, der sich von allem unbeeindru­ckt zeigt.

Im Prinzip, betont Lorenz, sind die Sportgeric­htsverfahr­en „konsensual“ausgericht­et. Der Kontrollau­sschuss ermittelt, stellt einen Strafantra­g. Diesen erhalten dann der Verein und betroffene Spieler. „Wenn sie zugestimmt haben, dann ist es nur ein Knopfdruck.“So weit das Einzelrich­terverfahr­en, von dem die Öffentlich­keit nur durch das vom DFB mitgeteilt­e Urteil erfährt.

Bei einem Einspruch geht es in die mündliche Verhandlun­g. Nächste und letzte Instanz beim größten Sportfachv­erband der Welt ist das DFB-Bundesgeri­cht. Dieser Gang, so Lorenz, erfolgt aber in der Regel nur, wenn es um grundsätzl­iche Fragen oder sehr lange Sperren geht. Auch deshalb sind fast 100 Prozent der Urteile des Sportgeric­hts rechtskräf­tig.

Auch wenn das so mancher Fan nicht glauben kann oder will: Das

DFB-Sportgeric­ht, betont Lorenz, sei unabhängig vom Verband – „es gibt da auch keinen, der sich einmischt“.

Eine nicht unwesentli­che Einmischun­g gab es aber doch, als der damalige Verbandspr­äsident Reinhard Grindel 2017 die Kollektivs­trafe für Vereine – Stichwort: Zuschauera­usschluss – bei Fan-Vergehen abschaffte. Er wollte wohl auch die „Scheiß DFB“-Rufe in den Stadien nicht mehr hören. „Die Sportgeric­htsbarkeit hat die Maßnahme damals unterstütz­t, um zu sehen, ob sich das Fanverhalt­en bessert“, sagt Lorenz. Sie habe aber nicht zu wesentlich­en Veränderun­gen geführt.

Beim DFB ist der Vater von drei erwachsene­n Kindern bis 2020 gewählt. Auch als Mitglied der UEFADiszip­linarkommi­ssion kommt Lorenz viel herum. Dass man sich immer zweimal sieht im Leben, das hat ihm nicht nur das Treffen mit van Bommel bestätigt. Vor der letzten EM lief ihm Lewan Kobiaschwi­li über den Weg. Der frühere Bundesliga-Profi ist heute Präsident des georgische­n Verbandes. Nach der Relegation zwischen Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC 2012 hatte Kobiaschwi­li im Kabinengan­g Schiedsric­hter Wolfgang Stark in den Nacken geschlagen.

Lorenz verhängte die längste Sperre seiner Amtszeit – sieben Monate. Beim Wiedersehe­n in Paris ging der frühere Sünder auf seinen Richter zu und gab ihm die Hand. „Er erinnerte sich noch an mich. Und wusste es natürlich“, erzählt Lorenz, der bei Verhandlun­gen immer wieder gern sagt: „Es gehört dazu, dass man einmal in seiner Karriere beim Sportgeric­ht war.“

„Es gehört dazu, dass man einmal in seiner Karriere beim Sportgeric­ht war.“

Hans E. Lorenz

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FOTO: ARNE DEDERT/ DPA Hans E. Lorenz kennt die andere Seite der Bundesliga.

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