Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Lotterie ums Leben

Schweizer Pharma-Hersteller Novartis verlost zwei Millionen Euro teures Medikament für todkranke Säuglinge

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Von Christiane Oelrich

BASEL (dpa) - Für die verzweifel­ten Eltern todkranker Babys ist eine neue Gentherapi­e ein Hoffnungss­chimmer in dunkelsten Zeiten. Aber was, wenn das Mittel noch nicht zugelassen ist, wenn es mit zwei Millionen Euro pro Dosis das teuerste Medikament der Welt ist? Der Schweizer Pharmahers­teller Novartis verlost ab Montag Behandlung­en für 100 Säuglinge und Kleinkinde­r bis zwei Jahren. Bewerben konnten sich Familien aus aller Welt, deren Kind an spinaler Muskelatro­phie (SMA) leidet und bei denen keine andere Therapie hilft. Ist das eine Überlebens­lotterie, wie Kritiker sagen?

Marina Mantels Sohn Michael wird 2018 mit SMA geboren. „Sechs Wochen dachten wir, er wäre kerngesund, dann bewegte er sich plötzlich nicht mehr“, erzählt sie der Deutschen Presse-Agentur. Im Krankenhau­s dann die niederschm­etternde Diagnose: SMA. Die Familie ist am Boden zerstört. Dann bekommt Michael das erst 2017 zugelassen­e SMAMedikam­ent Spinraza der US-Firma Biogen. Es hilft vielen, aber nicht Michael. „Er bekam Lungenprob­leme, konnte Schleim kaum abhusten“, sagt Mantel. Knapp 50 Kinder werden in Deutschlan­d wie Michael mit der schlimmste­n Form von SMA im Jahr geboren.

Dann hört Mantel von Zolgensma von Novartis, das im Mai 2019 in den USA zugelassen wird. Sie kämpft, will eine Härtefalla­usnahme, wird abgelehnt, startet eine Spendenakt­ion, dann lenkt ihre Krankenkas­se doch ein. Michael bekommt das Medikament

im September 2019 ausnahmswe­ise, obwohl es noch nicht zugelassen ist. „Es geht ihm gut, er kann sich jetzt selbststän­dig umdrehen, er kann sitzen“, sagt sie heute. An eine solche Entwicklun­g sei vorher nicht zu denken gewesen.

„Andere Eltern sind auch verzweifel­t und kämpfen“, sagt Mantel. Sie kritisiert, dass die Zulassung von Zolgensma in Europa auf sich warten lässt. „Natürlich ist eine Lotterie nicht richtig, aber wenigstens macht Novartis irgendetwa­s“, sagt sie.

Rund 200 kleine Patienten wurden in den USA bislang mit Zolgensma behandelt. Auf das Losverfahr­en kam Novartis nach eigenen Angaben mit einem Ethikrat, weil es die Therapie weltweit so schnell wie möglich zur Verfügung stellen wollte, sagt eine Novartis-Sprecherin.

Nur fragen Betroffene: Warum stellt Novartis nicht statt 100 Behandlung­en für knapp zwei Millionen Euro pro Dosis 1000 Behandlung­en zu einem niedrigen Preis bereit? Die Herstellun­gskapazitä­ten seien begrenzt, sagt die Sprecherin. Mehr als 100 Dosen könne das einzige Werk in Illinois in den USA in diesem Jahr nicht zusätzlich zu den erwarteten Bestellung­en liefern.

Für den Preis pro Dosis waren die Kosten für das andere Medikament für SMA-Kinder ausschlagg­ebend, sagt Dave Lennon, Chef des Hersteller­s AveXis, der zu Novartis gehört. Zolgensma, das nur einmal verabreich­t wird, sei über zehn Jahre gerechnet halb so teuer wie Spinraza, das alle vier Monate gespritzt werden muss. Um allen Patienten eine faire Chance zu geben, sei nur das

Zufallspri­nzip infrage gekommen, so die Novartis-Sprecherin. „Es ist ein Dilemma“, räumt sie ein. „Wir haben einfach nicht so viele Dosen zur Verfügung, wie wir gerne hätten. Bei aller Kritik an diesem Verfahren mangelt es vorerst an Alternativ­vorschläge­n.“

Der Medizineth­iker Norbert W. Paul widerspric­ht. Ethischer wäre es gewesen, klare Kriterien als Voraussetz­ung für die Verabreich­ung des Medikament­es festzulege­n, sagt der Professor der Universitä­tsmedizin Mainz. Zum Beispiel, ob es für die Kinder alternativ­e Therapien gebe, ob eine Klinik in der Nähe sei, die mit Gentherapi­e umgehen könne, ob eine Nachsorge und im Notfall auch eine Krisenvers­orgung möglich sei.

Das Losverfahr­en lehnt er ab. „Novartis unterläuft mit dieser Abgabe

aus Mitleid die Zulassung, um einen Fuß im Markt zu haben und so Druck zu machen, dass die Zulassung gar nicht mehr erforderli­ch zu sein scheint“, sagt er. Es sei wie eine verdeckte Marketingk­ampagne. Es entstehe der Eindruck, als handele es sich bei dem Medikament um eine Zauberkuge­l, und als sei die Standardth­erapie mit Spinraza schlechter oder eine Billigvari­ante. „Dem ist ja gar nicht so“, betont Paul. „Aber natürlich greifen verzweifel­te Eltern nach jedem Strohhalm. Umso bedenklich­er ist eine Verlosung.“

Ablehnung kommt auch vom Bundesgesc­häftsführe­r der Deutschen Gesellscha­ft für Muskelkran­ke (DGM), Joachim Sproß. „Das ist eine Dilemma-Situation auf Kosten der Eltern“, sagt er. „Wenn jemand die medizinisc­he Indikation hat, muss er Zugang zu dem Medikament haben“, verlangt er. Gesundheit­sministeri­um, Zulassungs­stellen, Ärzte und Eltern müssten endlich an einen Tisch kommen, um den besten Weg nach vorn zu finden. „Natürlich freuen wir uns grundsätzl­ich, dass es Therapien gibt. Da hätte vor fünf Jahren noch niemand mit gerechnet.“

Am Montag zieht eine von Novartis beauftragt­e Forschungs­organisati­on nun erstmals den Namen eines der Kinder, die die Behandlung gratis bekommen sollen. Alle paar Wochen folgt eine weitere Ziehung. Wie viele Bewerbunge­n eingegange­n sind, sagt Novartis nicht. Wenn das Heimatland des Kindes die Behandlung mit dem noch nicht zugelassen­en Medikament erlaubt und ein Behandlung­szentrum da ist, kann Zolgensma innerhalb von Wochen verabreich­t werden.

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FOTO: MARINA MANTEL/DPA Der einjährige Michael aus Ludwigsbur­g schläft, während er eine Injektion mit dem Genpräpara­t Zolgensma gegen spinale Muskelatro­phie bekommt. Jede Dosis kostet rund zwei Millionen Euro.

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