Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Blind für das Gesicht der Stadt
Als mein Fernseher vor einigen Jahren den Geist aufgab, musste ein neuer her. Im Geschäft ließ ich mir zeigen, was auf Lager war. Interessiert zeigte ich auf einen Bildschirm, schränkte jedoch ein: „Der ist aber schon recht groß. Gibt es den ein bisschen kleiner?“Der Verkäufer fiel fast vom Glauben ab. „Aber das ist doch schon der kleinste, den wir haben!“
Also war ich wieder mal hinter der Zeit zurückgeblieben. Die enorme Vergrößerung der Fernseher war mir entgangen. Inzwischen sind 1,50 Meter breite Bildschirme freilich normal; obwohl sie meist in Zimmern stehen, die dafür zu klein sind. Für einen angemessenen Abstand müssten sich die Leute in ihre Vorgärten stellen. Stattdessen kleben sie mit der Nase an der Scheibe und finden nichts dabei.
Jetzt müsste er fallen, der Begriff „Reizüberflutung“. Aber er sticht nicht mehr. Längst zeigt sich, dass der Mensch mit immer mehr und immer dichteren Reizen bestens zurechtkommt. Ist das Maß dessen, was uns zuträglich ist, also nicht irgendwann überschritten? Lässt es sich permanent weiter verschieben? Vielleicht ja; die Frage ist nur, wie sich der Anpassungskünstler Mensch dadurch verändert.
Die Veränderung stelle ich an mir selbst fest. Hin und wieder gebe ich den Discjockey, und die Musik, die ich auflege, hat sich im Lauf der Jahre verändert: Sie ist treibender geworden. Sie hat mehr Groove, mehr Effekte. Unmerklich habe ich immer noch eine weitere Schippe draufgelegt. Manche Lieder aus früheren Tagen lasse ich links liegen; sie sind mir schlicht zu unspektakulär.
Zunehmende Reize brezeln die Gegebenheiten – in diesem Fall einen Tanzabend – immer mehr auf. Die „Vergeilisierung“des Alltags hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Durchs Digitale, wo immer was geboten ist, das vom mäßig spannenden Hier und Jetzt ablenkt, aber auch in der analogen Welt: Plakate kündigen an normalen Wochentagen Partynächte in Clubs und Diskotheken an, und obwohl die
Veranstaltungsdichte generell stetig zunimmt, reißen die Klagen nicht ab, dass ja nichts los und nichts geboten sei. Offenbar befeuern sich die Reizzunahme und der Hunger nach mehr gegenseitig. Zufriedenheit und damit einen Endzustand kennt diese Dynamik nicht. Das Schwungrad dreht sich immer weiter und führt zu einer Vergröberung der Sinne. Bildhaft gesprochen: Wer löffelweise Zucker in den Tee schüttet, nimmt den Geschmack von purem Tee gar nicht mehr wahr. Und was man nicht wahrnimmt, erfährt auch keine Wertschätzung.
Künstliche Reize konditionieren die Sinne, bis man draußen vor der Tür im Extremfall nur noch Langeweile empfindet. Man wird blind für unvermüllte Straßen, gepflegte Gärten, blühende Bäume. Mit dieser Gleichgültigkeit droht das Verhältnis zum öffentlichen Raum aber in die Verwahrlosung zu kippen. Wenn die Umwelt nur noch als Durchgangspassage begriffen wird, weil die Welt vollends digital geworden ist, wird eines sicher nicht passieren: dass wir dem Gesicht unserer Stadt gesteigerte Aufmerksamkeit schenken.
Die Kulturtipps der Woche: Das Schauspiel Chemnitz zeigt im GZH Goethes „Faust II“, am Dienstag, 4. Februar, um 19 Uhr. Am Mittwoch, 5. Februar präsentiert Michael Sommer um 18 Uhr im Bahnhof Fischbach zehn Klassiker der deutschen Literatur, unter dem Titel „SpeedDating mit deutschen Klassikern“– und aufgeführt von Playmobil-Figuren. Die Galerie Lutze eröffnet am Freitag, 7. Februar, 20 Uhr, eine Ausstellung mit Werken von Burkhart Beyerle. Die Schau gibt Einblick ins Lebenswerk des 1930 geborenen Konstanzer Künstlers. Bernd Begemann ist einer der gewitztesten deutschen Popsänger. Am Freitag, 7. Februar, 20 Uhr, kommt er ins Casino. Im Kunstverein Friedrichshafen wird am Samstag, 8. Februar, um 19 Uhr eine Ausstellung von Andrew Gilbert eröffnet, in der er sich mit Strukturen von Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung beschäftigt.