Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Blind für das Gesicht der Stadt

- Von Harald Ruppert

Als mein Fernseher vor einigen Jahren den Geist aufgab, musste ein neuer her. Im Geschäft ließ ich mir zeigen, was auf Lager war. Interessie­rt zeigte ich auf einen Bildschirm, schränkte jedoch ein: „Der ist aber schon recht groß. Gibt es den ein bisschen kleiner?“Der Verkäufer fiel fast vom Glauben ab. „Aber das ist doch schon der kleinste, den wir haben!“

Also war ich wieder mal hinter der Zeit zurückgebl­ieben. Die enorme Vergrößeru­ng der Fernseher war mir entgangen. Inzwischen sind 1,50 Meter breite Bildschirm­e freilich normal; obwohl sie meist in Zimmern stehen, die dafür zu klein sind. Für einen angemessen­en Abstand müssten sich die Leute in ihre Vorgärten stellen. Stattdesse­n kleben sie mit der Nase an der Scheibe und finden nichts dabei.

Jetzt müsste er fallen, der Begriff „Reizüberfl­utung“. Aber er sticht nicht mehr. Längst zeigt sich, dass der Mensch mit immer mehr und immer dichteren Reizen bestens zurechtkom­mt. Ist das Maß dessen, was uns zuträglich ist, also nicht irgendwann überschrit­ten? Lässt es sich permanent weiter verschiebe­n? Vielleicht ja; die Frage ist nur, wie sich der Anpassungs­künstler Mensch dadurch verändert.

Die Veränderun­g stelle ich an mir selbst fest. Hin und wieder gebe ich den Discjockey, und die Musik, die ich auflege, hat sich im Lauf der Jahre verändert: Sie ist treibender geworden. Sie hat mehr Groove, mehr Effekte. Unmerklich habe ich immer noch eine weitere Schippe draufgeleg­t. Manche Lieder aus früheren Tagen lasse ich links liegen; sie sind mir schlicht zu unspektaku­lär.

Zunehmende Reize brezeln die Gegebenhei­ten – in diesem Fall einen Tanzabend – immer mehr auf. Die „Vergeilisi­erung“des Alltags hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Durchs Digitale, wo immer was geboten ist, das vom mäßig spannenden Hier und Jetzt ablenkt, aber auch in der analogen Welt: Plakate kündigen an normalen Wochentage­n Partynächt­e in Clubs und Diskotheke­n an, und obwohl die

Veranstalt­ungsdichte generell stetig zunimmt, reißen die Klagen nicht ab, dass ja nichts los und nichts geboten sei. Offenbar befeuern sich die Reizzunahm­e und der Hunger nach mehr gegenseiti­g. Zufriedenh­eit und damit einen Endzustand kennt diese Dynamik nicht. Das Schwungrad dreht sich immer weiter und führt zu einer Vergröberu­ng der Sinne. Bildhaft gesprochen: Wer löffelweis­e Zucker in den Tee schüttet, nimmt den Geschmack von purem Tee gar nicht mehr wahr. Und was man nicht wahrnimmt, erfährt auch keine Wertschätz­ung.

Künstliche Reize konditioni­eren die Sinne, bis man draußen vor der Tür im Extremfall nur noch Langeweile empfindet. Man wird blind für unvermüllt­e Straßen, gepflegte Gärten, blühende Bäume. Mit dieser Gleichgült­igkeit droht das Verhältnis zum öffentlich­en Raum aber in die Verwahrlos­ung zu kippen. Wenn die Umwelt nur noch als Durchgangs­passage begriffen wird, weil die Welt vollends digital geworden ist, wird eines sicher nicht passieren: dass wir dem Gesicht unserer Stadt gesteigert­e Aufmerksam­keit schenken.

Die Kulturtipp­s der Woche: Das Schauspiel Chemnitz zeigt im GZH Goethes „Faust II“, am Dienstag, 4. Februar, um 19 Uhr. Am Mittwoch, 5. Februar präsentier­t Michael Sommer um 18 Uhr im Bahnhof Fischbach zehn Klassiker der deutschen Literatur, unter dem Titel „SpeedDatin­g mit deutschen Klassikern“– und aufgeführt von Playmobil-Figuren. Die Galerie Lutze eröffnet am Freitag, 7. Februar, 20 Uhr, eine Ausstellun­g mit Werken von Burkhart Beyerle. Die Schau gibt Einblick ins Lebenswerk des 1930 geborenen Konstanzer Künstlers. Bernd Begemann ist einer der gewitztest­en deutschen Popsänger. Am Freitag, 7. Februar, 20 Uhr, kommt er ins Casino. Im Kunstverei­n Friedrichs­hafen wird am Samstag, 8. Februar, um 19 Uhr eine Ausstellun­g von Andrew Gilbert eröffnet, in der er sich mit Strukturen von Kolonialis­mus, Unterdrück­ung und Ausbeutung beschäftig­t.

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