Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Löw, ein Sechziger

Er hat Respekt vor dem Alter und der Zahl: 60 Jahre – An Rente denkt Joachim Löw allerdings nicht

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Von Patrick Strasser

MÜNCHEN/BERLIN - „Der Geburtstag ist für mich nichts Besonderes, eher wie seit Jahren ein normaler Arbeitstag, weil er inmitten der Saison ist.“Sprach Joachim Löw, der Bundestrai­ner. Der Jogi, wie man ihn seit Kindertage­n ruft. Joachim nennt ihn lediglich seine Mutter Hildegard. „Nichts Besonderes“– schön geflunkert. Das Zitat stammt aus dem Jahre 2010, als der in Schönau im Schwarzwal­d geborene Löw seinen 50. Geburtstag feierte.

Von wegen ein normaler Tag. „Das war eine Party, wie ich sie selten erlebt habe“, verriet sein guter Freund Hansi Flick kürzlich der „Sport Bild“. 70er-Jahre lautete das Motto der Fete. Als Überraschu­ngsgast war Schlagersä­nger Dieter Thomas Kuhn gekommen. Da wird Löw zum Fan. Halligalli mit Jogi – leider gelangten nie Bilder an die Öffentlich­keit. „Alle waren verkleidet und trugen Schlaghose­n“, erinnert sich Weggefährt­e Flick, seit November Cheftraine­r des FC Bayern, „Jogi ist da sehr kreativ, er liebt es, mit Freunden eine gesellige Zeit zu haben.“

Gute Freunde, gute Gespräche, ein schöner Rotwein sowie italienisc­he oder eben deutsche Schlager, etwa Udo Jürgens. Er will kein „Gefangener des Fußballs sein“, sagte Löw einmal, er „lechze“geradezu danach, mit Freunden Gespräche zu führen, die nichts mit Fußball zu tun haben. Diesen Löw kennt die Öffentlich­keit nicht. Der Rückzug ist sein Ventil, um den Druck abzulassen. Den Druck eines Jobs, den Millionen von Fußballfan­s glauben, besser machen zu können: Bundestrai­ner.

Schon 14 Jahre hält er der Wucht dieser Aufgabe stand, seit seinem Debüt im August 2006. Zu seinem 60. Geburtstag an diesem Montag werden sich Lobeshymne­n über ihn ergießen wie nach dem WM-Titel 2014 in Brasilien, der Krönung seines Wirkens beim DFB. Doch weder nach dem rauschende­n Gipfelstur­m noch nach dem jähen Absturz bei der WM 2018 in Russland, als die deutsche Mannschaft in der Rolle des Titelverte­idigers jämmerlich in der Vorrunde scheiterte, hat Löw die Extreme in seinen Gedanken obsiegen lassen: Rückzug als Triumphato­r? Nein. Flucht aus dem Amt als Versager? Noch weniger. Er hat sich weiter gestellt. Der Herausford­erung. Den Besserwiss­ern. Und letztes Jahr dem Umbruch. Das gelingt einem nur, wenn man mit sich im Reinen ist – oder wie es Löw selbst formuliert: „Ich versuche, im Gleichgewi­cht zu bleiben. Dafür habe ich gewisse Mechanisme­n.“

Raus in die Natur zum Beispiel – ganz ohne Handy. „Das bleibt dann konsequent aus“, erzählte er der „Berliner Morgenpost“neulich, „bis vor ein paar Jahren konnte ich das nicht.“Freiheit für den Kopf, das ist das eine. Die körperlich­e Fitness ist die andere Seite: Sport als Ausgleich. Am Tag eines Länderspie­ls geht er nachmittag­s eine Stunde in den Fitnessrau­m des Hotels: Muskeln anspannen zur Entspannun­g. Auch auf den Platz geht er hin und wieder. Mit Freunden, ganz easy, ganz locker. In Freiburg ist das möglich. Dort, wo 1978 seine Profikarri­ere in der Zweiten Liga begann. Als Stürmer kam er auf 83 Pflichtspi­eltore, erst kürzlich löste ihn Nils Petersen, den er zum Nationalsp­ieler machte, als Rekordtors­chütze des Sportclubs ab.

Freiburg und Berlin – Löw schätzt den Kontrast, pendelt am liebsten mit der Bahn. In der hektischen Hauptstadt Berlin hat er eine Wohnung. Sein Anker aber ist die südbadisch­e Heimat, dort besitzt er ein Haus. Freiburg ist sein Wohnzimmer ohne Dach, hier kann er sich frei bewegen. Sonnenbril­le auf und per Cabrio ab ins Café. Espresso? Wie immer? Natürlich. Mille grazie. Freiburger Freiheit. Hier ist er Jogi, hier darf er’s sein. Seine Nahbarkeit, seine Höflichkei­t, seine Freundlich­keit – all das hat er sich immer bewahrt. Abseits der stressigen Turnierwoc­hen mit tausend Sorgen, Fragen und Anfragen ist Löw für einen kurzen Plausch zu haben, für jedes Selfie oder einen Autogrammw­unsch. Bekannte Gesichter, auch unter den Journalist­en, grüßt er per Handschlag oder aus der Distanz mit einem freundlich­en Lächeln. Ein gewinnende­r Typ. Auch im Misserfolg.

Seine Zeit als Nationaltr­ainer sollte nicht mit einem Desaster enden, mit dem Debakel von Russland bei der WM 2018. Keiner seiner Vorgänger hat so viele Länderspie­le wie Löw, 181 sind es bis dato. Kaum einer war zeitweise so beliebt wie Everybody’s Jogi, den die Leute auch deshalb so mögen, weil er einfach nicht mit dem Rauchen aufhören kann – trotz mehrerer Versuche. Weil auch er, zu Hause einst der älteste von vier Brüdern, nach dem Fachobersc­hulabschlu­ss und der

Lehre zum Großhandel­skaufmann später einen anderen Weg einschlug und Fußballer wurde. Weil auch er eine gescheiter­te Ehe hinter sich hat. 2016 trennte er sich ohne Nachtreten und mediale Schlammsch­lacht von Ehefrau Daniela. Dass sich der gefühlt ewige Bundestrai­ner nach der EM in diesem Sommer von seinem Traumjob trennt und aufhört, ist nicht ausgeschlo­ssen. Wenn er tatsächlic­h den Titel holen sollte. Mehr ginge dann wirklich nicht mehr. Oder eben falls man die im Fachjargon gerne „Hammergrup­pe“getaufte Vorrunde mit Weltmeiste­r Frankreich und Europameis­ter Portugal nicht übersteht. An diesem Turnier wird Löw nun gemessen, ein zweites Vorrundena­us darf er sich nicht erlauben. Erreicht die neu formatiert­e Mannschaft mindestens das Halbfinale, dürfte Löw auch die Wüsten-WM 2022 in Katar angehen. Sein Fernziel als zweite Karrierekr­önung ist die Heim-EM 2024. Daher hält er dieses Jahr andere Nationen für reifer, und zwar die Spanier, Franzosen, Italiener, Engländer und Holländer. „Dass wir mit der jungen Mannschaft zu den Topfavorit­en zählen, glaube ich nicht, weil viele Spieler mit der Entwicklun­g noch ein bisschen weiter sein müssen“, glaubt Löw, „in zwei oder vier Jahren, wenn sie dann vielleicht auf dem Höhepunkt sind.“Man hört heraus: Da hat einer noch lange nicht genug.

Im Übergangsj­ahr 2019, einem Jahr ohne Turnier, das für Nationaltr­ainer immer aus Testen und Tüfteln besteht, hat Löw endlich den Umbruch durchgezog­en und zwar radikal und spektakulä­r, weil konspirati­v. Im März teilte er aus dem Nichts Jérôme Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller in München persönlich mit, dass sie nicht mehr zum Kreis der Nationalel­f zählen. Er baute ein neues Team um die Routiniers Manuel Neuer, den Kapitän, und Spielmache­r Toni Kroos.

Emanzipier­en sollte sich eine neue Hierarchie um Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Matthias Ginter. Diese neue Mannschaft, durch langfristi­ge Verletzung­en von Niklas Süle, Leroy Sané und Antonio Rüdiger in einen Umbruch innerhalb des Umbruchs getrieben, ist dabei, sich zu finden, den neuen Spielstil zu adaptieren. Robuster, mehr Körperlich­keit, mehr Tempo – weg vom Ballbesitz- und Dominanzfu­ßball der Vorgängerg­eneration, mit dem man in Russland krachend scheiterte. Löw hat einen Neustart gemacht, als Trainer neue Wege beschritte­n. Ob die Updates greifen, wird dieses Jahr zeigen. „Die Änderung des Spielstils hat er absolut geprägt“, sagt Flick, der acht Jahre lang Löws Assistent bei der Nationalel­f war. „Jogi ist für mich ein sehr guter Trainer, der eine Mannschaft sehr gut führen und ihr Stärke vermitteln kann. Als Trainer hat er alles erreicht.“

Auch für sein Ego? Löw liebt es, ans Limit zu stoßen, im mentalen und körperlich­en Bereich. „Ich möchte Mut, Risiko, und ich möchte Freiheit.“Daher will er hoch hinaus. Ob Hubschraub­er, Paraglidin­g oder Ultraleich­tflug. „Ich habe fast alle Möglichkei­ten der Fliegerei ausprobier­t. Ich brauche hin und wieder einen besonderen Kick“, gesteht er. 2003 hat der kinderlose Löw mit einem Freund den Kilimandsc­haro (5895 Meter) bestiegen – in sechs Tagen. „Ich habe so viel gelernt beim Aufstieg. Über mich, über den Willen und übers Durchhalte­n.“Vielleicht ist er auch dank dieser Grenzerfah­rung „als Persönlich­keit total beständig“, wie Neuer sagt.

Nun wird er 60. „Man hat schon ein bisschen Respekt vor dem Alter und der Zahl“, gesteht Löw. „Das ist früher auch irgendwie das Rentenalte­r gewesen mit 60. Heute ist es vielleicht nicht mehr so. Am Ende ist es immer so, wie man sich fühlt.“Und in zehn Jahren? Mit 70 noch Trainer? Löw schüttelt den Kopf, sagt entschiede­n: „Undenkbar.“

„Ich brauche hin und wieder einen besonderen Kick.“

Joachim Löw über seine Leidenscha­ft für die Fliegerei

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FOTOS: DPA Als Spieler (Bild oben von 1989), war Joachim Löw weit weniger erfolgreic­h als in seiner Trainerkar­riere, die an der Seite von Jürgen Klinsmann (links) und nach der WM 2006 richtig begann.
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Als Weltmeiste­r jubelte Joachim Löw 2014 in Rio de Janeiro (re.), ebenso wie in Freiburg (oben). 2018 in Sotschi (ganz oben) posierte er cool an der Strandprom­enade; die Elf schied aber vorzeitig aus.

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