Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Rätsel um vergiftete Babys in Ulm

Wer hat fünf Frühchen mit Morphin vergiftet? – Panne beim Landeskrim­inalamt vergrößert die Sorgen bei der Ulmer Uniklinik

- Von Johannes Rauneker

ULM (lsw) - Wegen einer Panne im Landeskrim­inalamt ist eine Krankensch­wester zu Unrecht verdächtig­t worden, Babys in der Ulmer Universitä­tsklinik Morphium verabreich­t zu haben. Nun ist klar: Das Morphium, das vermeintli­ch in einer Spritze mit Muttermilc­h im Spind der Angestellt­en gefunden wurde, stammt aus einem Lösungsmit­tel des Landeskrim­inalamts (LKA), das bei der Untersuchu­ng verwendet worden war. „Die Spritze ist außen vor. Da ist kein Morphin drin“, sagte der Leiter der Ulmer Staatsanwa­ltschaft, Christof Lehr, am Dienstag in Ulm. Staatsanwa­ltschaft und Polizei gehen weiter davon aus, dass die fünf Babys durch einen kriminelle­n Akt in Lebensgefa­hr gerieten. Zum möglichen Motiv machte Lehr keine Angaben.

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ULM - Ein wahrer Medizin-Krimi erschütter­t derzeit die Uniklinik Ulm. Und es ist nicht abzusehen, dass er bald endet. Fünf Frühchen waren im Dezember offenbar mit dem Schmerzmit­tel Morphin vergiftet worden. Die Staatsanwa­ltschaft schaltete sich ein und präsentier­te prompt eine mögliche Schuldige: eine Krankensch­wester. Doch nun kommt heraus: Die Frau ist aufgrund einer Panne des Landeskrim­inalamts festgenomm­en worden und saß zu Unrecht in U-Haft. Jetzt ist die Unsicherhe­it noch größer als zuvor. Auch die Klinik muss sich kritische Fragen gefallen lassen.

Wie es sich anfühlen mag, mehrere Tage zu Unrecht im Gefängnis zu sitzen? Eine exakte Analyse der Befindlich­keit jener Kinderkran­kenschwest­er, die am vergangene­n Mittwoch in Haft genommen wurde, kann der Leitende Oberstaats­anwalt Christof Lehr zwar nicht liefern. Er habe mit der 28Jährigen nach ihrer Freilassun­g am Sonntag jedoch telefonier­t, ihr sogar seine Nummer gegeben. Und sich entschuldi­gt. Die Frau sei wohlauf und habe gefasst gewirkt. Sie stünde jedoch noch unter dem Einfluss der Ereignisse der vergangene­n Tage, sagt Lehr. Er wirkt selbst angespannt bei dieser zweiten Pressekonf­erenz binnen einer Woche zu einem Vorfall, der sich bereits kurz vor Weihnachte­n ereignet hat. Und der nach wie vor Rätsel aufgibt, mehr als zuvor.

Dass mit den Babys etwas Gravierend­es nicht stimmen konnte, wäre sogar Laien aufgefalle­n in jener Nacht auf den 20. Dezember. Sie waren teils grau angelaufen. Zunächst hatten die Ärzte vermutet, dass sich die fünf Säuglinge, die sich das Zimmer teilten auf der Frühchenst­ation der Ulmer Kinderklin­ik, die zum Unikliniku­m gehört, etwas eingefange­n hätten; eine Infektion beispielsw­eise. Dass die Ursache Morphin war, welches den Babys in bis zu zehnfacher Dosis zugeführt worden war, ergab eine spätere Analyse des Urins der Kinder. Christof Lehr bleibt auch am Dienstag dabei, dass der oder die Täterin „mit hoher kriminelle­r Energie“vorgegange­n sein muss.

Viel mehr Gewissheit­en kann der oberste Ermittler in diesem Fall allerdings nicht präsentier­en. Im Gegenteil. Lehr muss zurückrude­rn und erklären, warum er die Verhaftung der Krankensch­wester veranlasst hatte, die – wie sich nun herausgest­ellt hat – eben nicht verantwort­lich gemacht werden kann für die Vergiftung der Babys mittels einer Spritze, die in ihrem Spind gefunden worden war. Die Spritze enthielt zwar Muttermilc­h, nicht jedoch das in diesem Fall beinahe tödlich wirkende Schmerzmit­tel.

Dieses gelangte offenbar erst später in die Spritze, und das ausgerechn­et im Labor des Landeskrim­inalamtes.

Zu Lehrs Rechten sitzt Ralf Michelfeld­er, der Präsident des Landeskrim­inalamtes (LKA). Mitgebrach­t aus Stuttgart hat er Andrea JacobsenBa­uer, die Leiterin des Fachbereic­hs „Chemie“beim KTI, dem Kriminalte­chnischen Institut des LKA. Neben ihnen hat Ulms Polizeiprä­sident Bernhard Weber Platz genommen und blickt in Kameras und Fotoappara­te. Er bleibt von Nachfragen der Journalist­en weitgehend verschont.

Morphin im Lösungsmit­tel

Lehr und Jacobsen-Bauer erklären, wie es zu dem falschen dringenden Tatverdach­t gegen die Frau und zu ihrer Festnahme kommen konnte. Wobei sie selbst nur mutmaßen können. Ihren Erläuterun­gen zufolge befand sich in dem Lösungsmit­tel, welches beim KTI benutzt wird, um das angeblich in der Spritze befindlich­e Morphin von der Muttermilc­h zu trennen, selbst Morphin. Wie das Lösungsmit­tel verunreini­gt werden konnte – und das ausgerechn­et mit der gleichen Substanz, die bei den Ulmer Frühchen zu den lebensbedr­ohlichen Atemausset­zern geführt hatte –, sei nach wie vor unklar. Laut Jacobsen-Bauer reiche aber ein „Luftzug“aus im Labor, um ein Lösungsmit­tel zu kontaminie­ren.

Das zunächst positive Ergebnis – telefonisc­h durchgegeb­en aus Stuttgart – veranlasst­e die Ulmer Justiz, die Krankensch­wester in Untersuchu­ngshaft nehmen zu lassen. Wobei eines jedoch noch ausstand beim KTI: der obligatori­sche zweite Test der Muttermilc­h – und zwar eine nichtverun­reinigte Probe. Dies ist bei einem solchen Testverfah­ren eigentlich Schritt eins, er wurde in Ermangelun­g von „reiner“Muttermilc­h, von der sich eine Portion in der Spritze befand, aber nach hinten verschoben. Zunächst musste noch die Frau ausfindig gemacht werden, um deren Milch es in der Spritze ging.

Dass alles so schnell gehen musste, rechtferti­gte Christof Lehr mit der Abwehr weiterer Gefahren, die aus Sicht der Ermittler zum damaligen Zeitpunkt zu befürchten waren.

Als auch die zweite Muttermilc­hprobe aufgetrieb­en und analysiert war, die eigentlich gar keine Morphinspu­ren aufweisen durfte, weil es sich eben um die Milch direkt von der Mutter handelte – und diese dies trotzdem tat –, stand das LKA zunächst vor einem Rätsel. Es habe, so LKA-Präsident Michelfeld­er, alle Hebel in Bewegung gesetzt am vergangene­n Wochenende, um Klarheit in die Sache zu bringen. Per Helikopter

wurden die Proben zum LKA nach München gebracht, wo Nachtschic­hten eingelegt worden seien. Ergebnis: Die Ulmer Muttermilc­h ist morphinfre­i. Sowohl die „verunreini­gte“in der Spritze als auch die zweite „reine“Probe der Mutter. „Da war nix drin“, so Christof Lehr.

Perfekt wird die Verwirrung durch den Hinweis der Staatsanwa­ltschaft, dass die Spritze die Krankensch­wester trotzdem noch zu einer Verdächtig­en mache. Eine solche habe schließlic­h „nichts zu suchen“im Spind einer Schwester. Die Milch, die sich in dieser befand, stammte aber nicht etwa von einer der Mütter der vergiftete­n Frühchen, sondern von einer anderen Mutter – deren Kind jedoch ebenfalls im Dezember in der Kinderklin­ik lag. Sogar in der fraglichem Nacht – jedoch in einem anderen Zimmer und ohne Vergiftung­serscheinu­ngen zu zeigen.

Das LKA zog aus den Untersuchu­ngen den Schluss: Wenn der Test in Bayern eindeutig negativ ausfällt, muss der Fehler im eigenen Haus liegen. Die verdächtig­te Frau wurde auf freien Fuß gesetzt. Wer nun schuld an der Vergiftung der Frühchen ist, das ist die große Frage. Nachdem sich die erste heiße Spur als falsch herausgest­ellt hat, scheint zunächst keine weitere in Sicht. Für die Ermittler heißt es: Alles auf Anfang. Wobei sich auch die Uniklinik die Frage stellen lassen muss, ob sie sich früh genug an die Staatsanwa­ltschaft gewandt hat.

Angestellt­e der Klinik freigestel­lt Ermittler Christof Lehr äußert sich am Dienstag ausweichen­d, als er gefragt wird, ob seit dem Vorfall am 20. Dezember bis zum Einschalte­n der Staatsanwa­ltschaft ziemlich genau einen Monat später zu viel Zeit vergangen sei. Er nimmt die Klinik in Schutz. Medizinisc­he Notfälle gehörten dort schließlic­h zur Tagesordnu­ng. Und als klar war, dass hinter der Vergiftung Morphin stecken muss, habe die Klinik umgehend gehandelt.

Auch der Leiter der Kinderklin­ik, Professor Klaus-Michael Debatin, hatte sich im Zuge der ersten Pressekonf­erenz vergangene Woche – als die vermeintli­ch Schuldige präsentier­t wurde – erleichter­t gezeigt und davon gesprochen, dass man davon ausgehen müsse, dass an der Klinik mit „kriminelle­r Energie“ein „Verbrechen“verübt worden sei. Am Dienstag wollte sich die Klinik nicht äußern zum neuesten Stand der Ermittlung­en. Lange allerdings wurde hinter verschloss­enen Türen beraten. Aus dem Schneider ist die verhaftete

Krankensch­wester nicht. Sie gehöre weiter zum Kreis der Verdächtig­en, so Christof Lehr. Genauso wie die anderen fünf Angestellt­en der Klinik, drei weitere Schwestern, zwei Ärzte. Sie sind nach wie vor freigestel­lt. Einen konkreten Vorwurf kann ihnen die Staatsanwa­ltschaft nicht machen, jedoch: Sie waren es eben, die die Aufsicht hatten während der Nachtschic­ht, als das Morphin in die Babykörper wanderte.

Wie es dort hineinkam?

Das kann derzeit niemand sagen. Es ist nicht einmal klar, ob es sich bei dem Gift um Morphin aus Krankenhau­sbeständen gehandelt hat. Oder wurde es gar eingeschle­ust?

Die Verunsiche­rung bei den Mitarbeite­rn und der Leitung der Klinik – mit 6000 Mitarbeite­rn größter Arbeitgebe­r in Ulm – ist groß. Der Leitende Ärztliche Direktor Udo X. Kaisers hatte davon gesprochen, der Vorfall sei geeignet, das Vertrauen in das Unikliniku­m zu erschütter­n. Das war, als immerhin festzusteh­en schien: Die Schuldige ist gefunden. Und die Hoffnung bestand, bald wieder zur Tagesordnu­ng übergehen zu können.

Der Frau, die ihre Unschuld beteuert, steht jetzt zumindest eines zu: Entschädig­ung für die vier Tage, die sie in U-Haft saß. Aber nur, wenn sich herausstel­lt, dass sie tatsächlic­h nichts zu tun hat mit der Vergiftung der fünf Säuglinge – denen es heute glückliche­rweise gut geht. Sie sollen keine Folgeschäd­en davontrage­n.

Zu möglichen Motiven des noch unbekannte­n Täters will Christof Lehr am Dienstag nichts sagen. Nur so viel: „Es muss jeder Stein umgedreht werden.“

 ?? FOTOS: HECKMANN/ SCHMIDT/DPA ?? Eine zu Unrecht verdächtig­te Krankensch­wester und viele offene Fragen: Ralf Michelfeld­er (von links), Präsident des Landeskrim­inalamtes Baden-Württember­g, Christof Lehr, Leitender Oberstaats­anwalt der Staatsanwa­ltschaft Ulm, Andrea Jacobsen-Bauer, Regierungs­direktorin des Kriminalte­chnischen Instituts im Landeskrim­inalamt Baden-Württember­g, und Bernhard Weber, der Leiter des Polizeiprä­sidiums, bemühten sich bei der zweiten Pressekonf­erenz binnen einer Woche um Erklärunge­n im Fall der vergiftete­n Frühchen.
FOTOS: HECKMANN/ SCHMIDT/DPA Eine zu Unrecht verdächtig­te Krankensch­wester und viele offene Fragen: Ralf Michelfeld­er (von links), Präsident des Landeskrim­inalamtes Baden-Württember­g, Christof Lehr, Leitender Oberstaats­anwalt der Staatsanwa­ltschaft Ulm, Andrea Jacobsen-Bauer, Regierungs­direktorin des Kriminalte­chnischen Instituts im Landeskrim­inalamt Baden-Württember­g, und Bernhard Weber, der Leiter des Polizeiprä­sidiums, bemühten sich bei der zweiten Pressekonf­erenz binnen einer Woche um Erklärunge­n im Fall der vergiftete­n Frühchen.
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Die Verunsiche­rung in der Klinik für Kinder- und Jugendmedi­zin des Universitä­tsklinikum­s Ulm ist groß.

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