Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Streit um Überwachung
Union will Kameras mit Gesichtserkennung einsetzen
BERLIN (klw) - Das Bundeskriminalamt (BKA) fordert mehr Effizienz bei der Videoüberwachung in Deutschland. Es bestehe „Handlungsbedarf“, sagte BKA-Präsident Holger Münch zum Start einer am Dienstag begonnenen europäischen Polizeikonferenz in Berlin. Zeit koste vor allem die bundesländerübergreifende Materialsammlung.
Die Bundespolitik streitet derzeit um die Einführung von Kameras mit automatischer Gesichtserkennung. Die Union ist dafür. „Wenn die SPD uns nicht daran hindert, werden wir in dieser Wahlperiode die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz schaffen“, sagte Unionsfraktionsvize Thorsten Frei. Grüne, FDP und Linke warnen vor zu viel Überwachung.
Themen des heute endenden Polizeikongresses sind neben dem Einsatz neuer Polizeitechnik auch die Sicherung der europäischen Außengrenzen und der Kampf gegen Extremismus.
Von Klaus Wieschemeyer und Stefan Kegel
GBERLIN - Ein eher unwirtlicher Betonbahnhof im Süden Berlins wurde zwischen Sommer 2017 und Ende Juli 2018 zum Sehnsuchtsort mancher Sicherheitspolitiker. Am Bahnhof Südkreuz, einem Knotenpunkt von SBahnen und Fernzügen in Autobahnnähe, standen plötzlich interessierte Politikergruppen zwischen umsteigenden Pendlern. Denn hier hatten Bahn und Polizei per Kameras ein Jahr lang Freiwillige erfassen lassen. Mithilfe der biometrischen Daten der Gesichter konnten diese die Probanden in vier von fünf Fällen wiedererkennen. Das System folgt demselben Prinzip wie die Gesichtserkennung, mit der man heute Handys entsperren und Online-Bankgeschäfte erledigen kann.
Nur in weit weniger als einem Prozent der Fälle verwechselte das System am Südkreuz Menschen miteinander. Für die Befürworter der automatischen Gesichtserkennung ein Durchbruch.
Für Kritiker wie den FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle hingegen ein Risiko: Denn bei großen Bahnhöfen mit vielen Pendlern könnten die Verwechslungen selbst bei niedrigen Prozentzahlen in die Tausende gehen – pro Tag. Das Innenministerium widerspricht: Bei Weiterentwicklung des Systems könne man künftig auf nur zwei Fehlalarme bei einer Million Abgleichen kommen.
Die Realität der Videoüberwachung in Deutschland sieht anders aus, wie Bundeskriminalamtschef Holger Münch vor Beginn eines am Dienstag gestarteten Polizeikongresses in Berlin betonte. „Beim Thema Videoüberwachung besteht aus Sicht der Strafverfolgung grundsätzlicher Handlungsbedarf“, sagte Münch der Nachrichtenagentur dpa. Allein die Bearbeitung des in den Bundesländern gespeicherten Materials brauche viel Zeit.
Blick nach China
Ob intelligente Kameras, die selbstständig gesuchte Personen erkennen und dann Alarm schlagen, die Lösung sind? Die Koalition aus Union und SPD ist offen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte die Überwachung sogar in den Entwurf fürs Bundespolizeigesetz schreiben lassen – und kurzfristig wieder streichen lassen. „Die Klärung zum weiteren Umgang mit dem Vorhaben zur Einführung automatisierter Gesichtserkennung soll zunächst im parlamentarischen Raum erfolgen“, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Denn zuletzt gab es Unruhe: In China straft die Regierung mit Hilfe der Überwachung unerwünschtes Verhalten der Bürger ab. Die in Berlin mitregierende SPD geht deshalb auf Distanz: „Der Blick nach
China zeigt uns, dass es gute Gründe gibt, solche Systeme mit großer Vorsicht anzufassen“, warnt die innenpolitische Sprecherin Ute Vogt. Auch in Indien ist ein gewaltiges Überwachungssystem geplant, Menschenrechtler warnen vor einem Überwachungsstaat.
Zuletzt sorgte das US-Unternehmen Clearview für Aufregung: Mit drei Milliarden Menschenfotos aus öffentlich zugänglichen Quellen hat die Firma eine Datenbank aufgebaut, die bei der Suche nach Personen helfen soll. Angeblich nutzen 600 Behörden weltweit Clearview. Allerdings
keine deutschen Ermittler. „Die ganze Gesellschaft abzuscannen ist rechtlich nicht möglich und auch nicht geplant“, sagt ein Sprecher Seehofers. Doch CDU und CSU sind offen für mehr Überwachung, geplant sind Kameras an zunächst 135 Bahnhöfen und 14 Flughäfen: „Die Bürger lassen sich lieber filmen als verprügeln“, sagt Unionsfraktionsvize Thorsten Frei. Die Menschen fühlten sich nur frei, wenn sie sich auch sicher fühlen, betont er. Zudem gehe es nicht um flächendeckende Generalüberwachung: „Wir zielen nicht auf Falschparker, sondern auf schwere und schwerste Straftäter und Terroristen. Es geht um nichts Geringeres als den Schutz unserer Bürger“, betont Frei.
Ein Recht auf Anonymität?
Doch gescannt würden auch die Unbescholtenen, kritisiert die Opposition. „Demokratien leben von der Verfügbarkeit grundsätzlich unüberwachter öffentlicher Räume, in denen sich Individuen frei bewegen können“, sagt Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz. „Die Überlegungen zur flächendeckenden Einführung biometrische Gesichtserkennung auf Grundlage algorithmischer Verfahren stellt diese rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit in Frage und drohen die relative Anonymität öffentlicher Räume nachhaltig zu gefährden oder gar zu beenden“, betont er. FDP-Innenpolitiker Kuhle fordert ein grundsätzliches Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum. Linken-Fraktionsvize André Hahn warnt: „Wir dürfen nicht alles zulassen, was technisch möglich ist.“Die Oppositionsparteien bekommen Schützenhilfe aus Brüssel. Auch der EU ist die Gesichtserkennung nicht geheuer. In Brüssel wird über ein Moratorium nachgedacht.