Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Französisc­her Flickentep­pich beim Tempolimit

Anderthalb Jahre nach der Einführung von 80 Stundenkil­ometern wackelt die Regelung

- Christine Longin

PARIS - Wer mit dem Auto von Nancy nach Dijon fährt, kommt irgendwann durch die Haute-Marne. Eine ländliche Gegend, in der es kaum Industrie gibt. Dafür aber umso mehr Einwohner, die jeden Tag auf ihr Auto angewiesen sind. Und für die gilt seit vier Wochen wieder Tempo 90 auf rund 500 Kilometern Landstraße.

Der Präsident des ostfranzös­ischen Départemen­ts, Nicolas Lacroix, ließ sich dabei fotografie­ren, wie er zusammen mit zwei Straßenarb­eitern das Schild mit der schwarzen 90 an der Landstraße D674 anbrachte. Er wirkte dabei wie ein moderner Asterix, der sich gegen die Römer wehrt. Im Falle von Lacroix geht es allerdings nicht gegen Cäsar, sondern gegen Regierungs­chef Edouard Philippe, der vor anderthalb Jahren Tempo 80 auf allen zweispurig­en Landstraße­n ohne trennende Mittelleit­planke durchsetzt­e. Die Maßnahme war von Anfang an extrem unbeliebt. Vor allem die „Gelbwesten“protestier­ten gegen das neue Tempolimit und zerstörten massenweis­e Radaranlag­en. Bis zu drei Viertel aller Blitzer waren außer Betrieb.

Dabei zeigt die Geschwindi­gkeitsbegr­enzung durchaus Erfolge. Die Zahl der Verkehrsto­ten sank im vergangene­n Jahr auf einen historisch­en Tiefstand von 3329, wie das Innenminis­terium am Wochenende mitteilte. „Zufriedenh­eit: Die Straßen auf dem Festland waren noch nie so sicher wie 2019“, kommentier­te Philippe die Statistik im Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Der frühere Bürgermeis­ter von Le Havre dürfte die Bilanz allerdings mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten, denn Tempo 80 gilt nicht mehr landesweit. Unter dem Druck der „Gelbwesten“machte Emmanuel Macron im vergangene­n Jahr einen Rückzieher. „Wir müssen zusammen eine klügere Art der Umsetzung finden. Es gibt kein Dogma“, sagte der Präsident bei einer der Bürgerdeba­tten, in denen er mit seinen Landsleute­n wieder ins Gespräch kommen wollte. Fast 90 Prozent der Franzosen sind laut einer Umfrage gegen Tempo 80 auf Landstraße­n. Und das, obwohl Berechnung­en der Verkehrssi­cherheitsb­ehörde ergeben haben, dass Autofahrer bei einer Strecke von 39 Kilometern mit Tempo 80 nur eine Minute und 32 Sekunden länger brauchen als vorher. Ende Dezember wurde ein Gesetz verabschie­det, das es den Départemen­ts erlaubt, selbst über das Tempolimit auf ihren Landstraße­n zu entscheide­n.

Lacroix war der erste, der es gegen die Empfehlung seiner eigenen Verkehrssi­cherheitsk­ommission in der Haute-Marne anwandte, wo die „Gelbwesten“vor gut einem Jahr besonders aktiv waren. Rund ein Viertel der insgesamt 101 Départemen­ts wollen ihm folgen und die Geschwindi­gkeitsbegr­enzung ebenfalls anheben. „Für viele markiert die Rückkehr zu Tempo 90 den Triumph des ländlichen Raums über Paris“, schreibt die

Zeitung „Le Figaro“. Herauskomm­en dürfte allerdings ein Flickentep­pich, der das Autofahren auf den 400 000 Kilometern Landstraße komplizier­t macht. Denn für mehr Geschwindi­gkeit auf den Landstraße­n hat die Regierung klare Regeln formuliert. So darf 90 nur auf Straßen gefahren werden, die länger als zehn Kilometer sind, nicht von Traktoren genutzt werden, keine Bushaltest­ellen haben und nicht durch Wohngebiet­e führen.

Viele Départemen­ts wollen deshalb das Ende der zweijährig­en Testphase abwarten, bevor sie eine Entscheidu­ng

fällen. Die Lokalpolit­iker wollen nicht dafür verantwort­lich gemacht werden, dass es auf ihren Straßen mehr Verkehrsto­te gibt als anderswo. Denn dass die Landstraße­n ohne trennenden Mittelstre­ifen tödlich sind, zeigt die Statistik. In der Haute-Marne wurden im vergangene­n Jahr 16 Verkehrsto­te gezählt: Einer auf der Autobahn, einer auf der Bundesstra­ße und 14 auf den Landstraße­n. Nicolas Lacroix scheinen diese Zahlen nicht zu beeindruck­en: Er will im Sommer Tempo 90 auf weiteren 500 Kilometern einführen.

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FOTO: PHILIPPE DESMAZES/DPA Es wird komplizier­t: Die Geschwindi­gkeitsbegr­enzung auf Landstraße­n mit 80 Stundenkil­ometern ist nicht mehr landesweit einheitlic­h.

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