Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Französischer Flickenteppich beim Tempolimit
Anderthalb Jahre nach der Einführung von 80 Stundenkilometern wackelt die Regelung
PARIS - Wer mit dem Auto von Nancy nach Dijon fährt, kommt irgendwann durch die Haute-Marne. Eine ländliche Gegend, in der es kaum Industrie gibt. Dafür aber umso mehr Einwohner, die jeden Tag auf ihr Auto angewiesen sind. Und für die gilt seit vier Wochen wieder Tempo 90 auf rund 500 Kilometern Landstraße.
Der Präsident des ostfranzösischen Départements, Nicolas Lacroix, ließ sich dabei fotografieren, wie er zusammen mit zwei Straßenarbeitern das Schild mit der schwarzen 90 an der Landstraße D674 anbrachte. Er wirkte dabei wie ein moderner Asterix, der sich gegen die Römer wehrt. Im Falle von Lacroix geht es allerdings nicht gegen Cäsar, sondern gegen Regierungschef Edouard Philippe, der vor anderthalb Jahren Tempo 80 auf allen zweispurigen Landstraßen ohne trennende Mittelleitplanke durchsetzte. Die Maßnahme war von Anfang an extrem unbeliebt. Vor allem die „Gelbwesten“protestierten gegen das neue Tempolimit und zerstörten massenweise Radaranlagen. Bis zu drei Viertel aller Blitzer waren außer Betrieb.
Dabei zeigt die Geschwindigkeitsbegrenzung durchaus Erfolge. Die Zahl der Verkehrstoten sank im vergangenen Jahr auf einen historischen Tiefstand von 3329, wie das Innenministerium am Wochenende mitteilte. „Zufriedenheit: Die Straßen auf dem Festland waren noch nie so sicher wie 2019“, kommentierte Philippe die Statistik im Kurznachrichtendienst Twitter. Der frühere Bürgermeister von Le Havre dürfte die Bilanz allerdings mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten, denn Tempo 80 gilt nicht mehr landesweit. Unter dem Druck der „Gelbwesten“machte Emmanuel Macron im vergangenen Jahr einen Rückzieher. „Wir müssen zusammen eine klügere Art der Umsetzung finden. Es gibt kein Dogma“, sagte der Präsident bei einer der Bürgerdebatten, in denen er mit seinen Landsleuten wieder ins Gespräch kommen wollte. Fast 90 Prozent der Franzosen sind laut einer Umfrage gegen Tempo 80 auf Landstraßen. Und das, obwohl Berechnungen der Verkehrssicherheitsbehörde ergeben haben, dass Autofahrer bei einer Strecke von 39 Kilometern mit Tempo 80 nur eine Minute und 32 Sekunden länger brauchen als vorher. Ende Dezember wurde ein Gesetz verabschiedet, das es den Départements erlaubt, selbst über das Tempolimit auf ihren Landstraßen zu entscheiden.
Lacroix war der erste, der es gegen die Empfehlung seiner eigenen Verkehrssicherheitskommission in der Haute-Marne anwandte, wo die „Gelbwesten“vor gut einem Jahr besonders aktiv waren. Rund ein Viertel der insgesamt 101 Départements wollen ihm folgen und die Geschwindigkeitsbegrenzung ebenfalls anheben. „Für viele markiert die Rückkehr zu Tempo 90 den Triumph des ländlichen Raums über Paris“, schreibt die
Zeitung „Le Figaro“. Herauskommen dürfte allerdings ein Flickenteppich, der das Autofahren auf den 400 000 Kilometern Landstraße kompliziert macht. Denn für mehr Geschwindigkeit auf den Landstraßen hat die Regierung klare Regeln formuliert. So darf 90 nur auf Straßen gefahren werden, die länger als zehn Kilometer sind, nicht von Traktoren genutzt werden, keine Bushaltestellen haben und nicht durch Wohngebiete führen.
Viele Départements wollen deshalb das Ende der zweijährigen Testphase abwarten, bevor sie eine Entscheidung
fällen. Die Lokalpolitiker wollen nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass es auf ihren Straßen mehr Verkehrstote gibt als anderswo. Denn dass die Landstraßen ohne trennenden Mittelstreifen tödlich sind, zeigt die Statistik. In der Haute-Marne wurden im vergangenen Jahr 16 Verkehrstote gezählt: Einer auf der Autobahn, einer auf der Bundesstraße und 14 auf den Landstraßen. Nicolas Lacroix scheinen diese Zahlen nicht zu beeindrucken: Er will im Sommer Tempo 90 auf weiteren 500 Kilometern einführen.