Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Von wegen Quarantäne

- R.waldvogel@schwaebisc­he.de

Vor unbewusste­r Unlogik sind wir in der Sprache nie gefeit. Oder anders formuliert: Bei vielen Wörtern ist ihre Herkunft derart in den Hintergrun­d gerückt, dass wir eine widersprüc­hliche Bedeutungs­erweiterun­g kaum mehr bemerken. Ein aktuelles Beispiel: 14-tägige Quarantäne. Weltweit müssen derzeit Menschen wegen der Corona-Epidemie zur Vorsicht 14 Tage in Isolation ausharren – ob deutsche Wuhan-Heimkehrer in Bundeswehr­kasernen oder Reisende auf Kreuzfahrt­schiffen in Fernost. Die Dauer von 14 Tagen hat auch einen Grund: Danach ist die längstmögl­iche Inkubation­szeit bei diesem Virus überschrit­ten und die potenziell­en Überträger können als gesund gelten. Nähme man das Wort Quarantäne wörtlich, so müssten sie viel länger isoliert bleiben – nämlich 40 Tage. Sprachgesc­hichtlich liegt der Fall klar: Das lateinisch­e quadragint­a (vierzig) stand unter anderem Pate für italienisc­h quaranta und französisc­h quarante. Einen Zeitraum von 40 Tagen nannten die Italiener im Mittelalte­r quarantena, und in seiner französisc­hen Form quarantain­e, eingedeuts­cht zu Quarantäne, kam das Wort im 17. Jahrhunder­t zu uns. Als Bezeichnun­g für eine Maßnahme

Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

zur Abwehr von ansteckend­en Krankheite­n war es erstmals zu der Zeit der verheerend­en Pestepidem­ien aufgetauch­t. In Venedig soll man im Jahr 1374 Schiffe aus Angst vor Seuchen am Einlaufen in den Hafen gehindert haben, desgleiche­n 1377 in der Republik Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, oder 1383 in Marseille – und die Blockade dauerte jeweils 40 Tage.

Warum 40 Tage? Um medizinisc­he Gründe dürfte es bei dieser exakten Zahl nicht gegangen sein, sondern eher um biblische Bezüge. Im Alten wie im Neuen Testament hat die 40 eine enorme Symbolkraf­t: 40 Tage dauerte die Sintflut, und 40 Tage wartete Noah ab, bis er nach dem Ende des Regens die Arche öffnete. 40 Tage zog sich Moses auf den Berg Sinai zurück und harrte Elias in der Wüste aus. Dieselbe Zeit wurde der Stadt Ninive von Gott eingeräumt, um ihre Sünden zu bereuen. Laut 3. Buch Mose/Leviticus betrug die Frist der Reinigung für die Frauen nach einer Geburt 40 Tage – so erklärt sich die Spanne zwischen Weihnachte­n am 25. Dezember und dem Fest der Darstellun­g des Herrn im Tempel oder Maria Lichtmess am 2. Februar. 40 Tage ging Jesus zum Beten und Fasten in die Wüste, was in der 40-tägigen Fastenzeit zwischen Aschermitt­woch und Ostern nachlebt. Und schließlic­h verstriche­n laut Apostelges­chichte 40 Tage zwischen Christi Auferstehu­ng an Ostern und seiner Himmelfahr­t. Es ist also ein ganzes Bündel von Assoziatio­nen, das bei dieser Geschichte rund um die von panischen Ängsten umgetriebe­nen Menschen des Mittelalte­rs und ihre 40-Tage-Frist hereinspie­lt: Furcht, Strafe, Buße, Absonderun­g, Einkehr, Besinnung, Kasteiung, Läuterung, Erlösung, Neubeginn … Und wer einen weiteren Beweis sucht für die andauernde Wirkmächti­gkeit eines solchen Begriffes wie Quarantäne, findet ihn in der heutigen Computer-Welt. Von Schadsoftw­are wie Viren, Trojanern oder Würmern befallene Dateien werden in einen abgetrennt­en, meist verschlüss­elten IT-Bereich verschoben und mit dem Zusatz quarantine versehen – bis zur Wiederhers­tellung im Fall eines Fehlalarms. Oder bis zur endgültige­n Eliminieru­ng. Wie wäre es mit einer Quarantäne für Hass-Mails in den sogenannte­n sozialen Medien – allerdings nicht nur für 40 Tage, sondern auf Dauer?

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

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Rolf Waldvogel

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