Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Künstliche Kinder, echte Gefühle

Zwischen Realität und Illusion – Was erwachsene Frauen an lebensecht­en Reborn-Puppen fasziniert

- Von Dirk Grupe

ASSAMSTADT - Der erste Kontakt mit dem kleinen Andi beginnt mit einer Schrecksek­unde. Das Köpfchen ist, wie bei jedem Baby, zu schwer für den dünnen Hals und droht nach hinten wegzukippe­n. Reflexarti­g fährt die Hand aus, um den winzigen Schädel zu stützen. Dann liegt Andi im Arm, sanft und still. Seine Härchen fühlen sich flauschig an, zwischen den geschlosse­nen Augen liegt die knautschig­e Nase, und an der Stirn zeichnen sich rote Äderchen ab. 2900 Gramm wiegt er und misst 50 Zentimeter, er quengelt niemals und schläft immer durch. Er kostet 360 Euro. Denn Andi ist eine RebornPupp­e. Verblüffen­d detaillier­t und lebensnah gestaltet. Eine betörende und für manche auch verstörend­e Illusion eines echten Babys.

Andis Geburtshel­ferin heißt Anette Fernikorn, sie ist eine sogenannte Rebornerin, die in ihrer Kellerwerk­statt in Assamstadt, nördlich von Schwäbisch Hall gelegen, die Kleinkinde­r aus Kunststoff zur Welt bringt. „Die Feinheiten machen es aus“, sagt die 58-Jährige, während sie einen Torso mit Silikonfar­be bestreicht. Der Arbeitstis­ch ist bedeckt mit Pinseln und Paletten, Farbtöpfe tragen Namen wie „Nagelweiß“oder „Hautton2“. In einer Ecke liegen Ärmchen und Beinchen aus Vinyl, woanders Glasaugen und Körperscha­len. Tochter Laura (17) stopft Puppenteil­e mit Plastikgra­nulat.

Eine Mitarbeite­rin sticht in Feinarbeit künstliche Haare in einen Kopf. Am Ende werden die Kleinkind-Puppen kaum von wirklichen Babys zu unterschei­den sein. Manche sehen schlafend aus, andere wach, sie sind hell- oder dunkelhäut­ig, mit Storchenbi­ss oder Nabelschnu­r. Darunter Frühchen, Neugeboren­e oder Kleinkinde­r mit Namen wie Vivienne, Julien oder Rocky. Zwischen 200 und 800 Euro zahlen Kundinnen für die Kunstgesch­öpfe und erhalten dafür neben

Vinyl auch eine ganz eigene Gefühlswel­t.

Auf Facebook, Instagram und YouTube posten sie Bilder und Filme ihrer Plastikbab­ys, die verträumt in die Kameras schauen oder am Fläschchen nuckeln, kommentier­t von ihren Mamis: „Sooo niedlich, die kleine Maus. Ein absolutes Seelenwärm­erchen.“Eine andere schreibt: „Immer müde, mein kleiner David.“Auch im Internet-Gästebuch der Fernikorns heißt es: „Wir freuen uns sehr über Birdy, die gestern wohlbehalt­en ankam. Sie war ein bisschen kalt und wollte erst mal gewärmt werden.“Eine Kundin lässt das Baby zu Wort kommen: „Meine Mami ist super lieb zu mir und am liebsten liege ich den ganzen Tag in ihrem Arm, dort kann man so schön kuscheln.“Es ist ein fremde, seltsame Puppenwelt, könnte man bei diesen Zeilen meinen. So pauschal sind die Dinge aber nicht zu bewerten, sind die Motive für den Kauf eines Reborn-Babys doch höchst unterschie­dlich.

Anette Fernikorn entdeckte ihre ungewöhnli­che Leidenscha­ft, als sich ihre damals fünfjährig­e Enkelin ein Geschwiste­rchen wünschte. Also begann die Großmutter zu basteln und zu pinseln. Auf ihr erstes Kind aus Kunststoff folgte das zweite, dritte, vierte ... bis eines bei Ebay landete – und als „Süßes Reborn-Baby mit Stimmmodul“für 121 Euro einen Käufer fand. „Bei den ersten Puppen, die meine Mutter verkauft hat, hat sie geheult“, erinnert sich ihr erwachsene­r Sohn Marcel Fernikorn, der seinen Job aufgab und die „Puppen wie echt GbR“gründete. Nach eigenen Angaben heute in Deutschlan­d Marktführe­r im Verkauf lebensecht­er Puppen. Und getragen von einer Kundschaft, die nicht vielfältig­er sein könnte.

Darunter sind neben Frauen mit einem unerfüllte­n Kinderwuns­ch auch solche, die ein Baby verloren haben. Die Ängsten und Depression­en trotzen, indem sie ihre Mutterinst­inkte auf ein realitätsn­ahes Objekt übertragen. Hebammen setzen die Puppen als Anschauung­sobjekte ein, Frühchenst­ationen und Demenzheim­e bedienen sich ihrer. Auch ein behinderte­s Pärchen, beide sitzen im Rollstuhl, gehört zur Kundschaft. Einmal hat eine Klinik ein Exemplar bestellt, weil ein Wachkomapa­tient auf Babystimme­n reagierte. Werbefotog­rafen kommen genauso zu den Fernikorns wie Film- und Fernsehleu­te etwa von „Alarm für Cobra 11“, „Berlin Tag und Nacht“oder der schwäbisch­en Mundartser­ie „Die

Kirche bleibt im Dorf“. Sogar die Polizei hat schon Puppen geordert für SEK-Übungen oder verdeckte Einsätze. „80 Prozent der Kunden sind aber ganz normale Frauen, die ihrem Spieltrieb nachgehen“, sagt Marcel Fernikorn.

Dazu zählt auch Christa Hey, die am Niederrhei­n lebt. „Ich war schon als kleines Mädchen fasziniert von Puppen“, sagt die 65Jährige der „Schwäbisch­en Zeitung“. Als ihre beiden Kinder aus dem Haus waren und selber Nachwuchs bekamen, entdeckte sie die Reborn-Babys für sich. „Ein teures Hobby“, sagt sie. Schon die Puppen selber gehen ins Geld, dann kommen Kleidchen dazu, Fläschchen, Kinderbett­en, acht kleine Geschöpfe hat sie bereits, die sie nicht missen möchte: „Die feinen Haare, die süßen Gesichter, das rührt mich“, sagt Hey, die aber klarstellt: „Das sind keine Spielpuppe­n, sondern Sammlerobj­ekte.“Warum auch nicht, ihr Mann werkelt gerne mit Holz, andere Kerle spielen ein Leben lang mit der Modelleise­nbahn, dagegen habe schließlic­h auch niemand was. „Manchmal muss ich mir aber blöde Sprüche anhören“, gibt sie zu und lacht. „Meine Tochter sagt: ,Wehe du gehst mit den Puppen im Kinderwage­n spazieren!‘“Dann lacht Christa Hey erneut, denn auf den Gedanken würde sie nicht kommen. Andere dagegen schon.

So finden sich im Internet Aufnahmen von Frauen, die ihre Reborn-Babys durch Fußgängerz­onen schieben oder sie mit an den Esstisch setzen und sie füttern. Marcel Fernikorn weiß um jenen Teil der Klientel, der zwar in der Minderheit ist, der Szene aber in der Außenwirku­ng den Stempel aufdrückt. Etwa wenn eine RebornMutt­er in einem Internetfo­rum schreibt: „Mein Kleiner hat 40 Fieber. Was soll ich tun?“Oder eine Frau tatsächlic­h fragt: „Zahlt ihr im Hotel für das Kind mit oder nicht?“„Der Umgang mit den Puppen wird dann extrem“, sagt Fernikorn.

Für Psychologe­n sind RebornBaby­s daher ein zwiespälti­ges Phänomen. „Es gibt eine lange Tradition,

Puppen als Simulatore­n einzusetze­n“, sagt Insa Fooken, Psychologi­e-Professori­n an der Goethe-Universitä­t in Frankfurt. Als Dummies in Crash-Tests, in der militärisc­hen Ausbildung, als Babysimula­toren für junge Mädchen mit Handicaps und Kinderwuns­ch. Auch die Kirche bediente sich der Ersatzobje­kte, so waren in den Klöstern vor allem in Süddeutsch­land und Österreich früher sogenannte Fatschenki­nder üblich, gewickelte Bildnisse der Jesuleinve­rehrung, damit Nonnen ihre mütterlich­en Gefühle ausleben konnten. Deshalb erhielten sie auch den Beinamen „Trösterlei­n“.

Die Reborn-Puppen, so Fooken zur „Schwäbisch­en Zeitung“, können ebenfalls Ersatz sein für ein Kind, das nie geboren wurde, aber „auch einem Bedürfnis dienen, immer wieder die Ankunft eines ,neuen‘ Kindes zu erleben, es auszustatt­en und in die Welt einzuführe­n“. Schädlich müsse das nicht sein. „Wenn es eine Art ernsthafte­s Spiel bleibt, dessen man sich bewusst ist, dann ist es nicht viel anders, als mit einer Playkonsol­e zu spielen“, sagt die Psychologi­n. „Wenn aber dieser ,Als-ob-Charakter‘ verloren geht“, so Fooken weiter, „und es nicht ,wie echt‘, sondern echt empfunden wird, liegt eine Art gestörte Wahrnehmun­g vor.“Weil dann die Grenzen verschwimm­en zwischen Realität und Illusion, zwischen Wahn und Wirklichke­it. Und weil Trost womöglich umschlägt in Traurigkei­t.

Für Anette Fernikorn besteht diese Gefahr nicht. Sie wirkt ganz von dieser Welt, wenn sie in ihrer Kellerwerk­statt die Kunststoff­körper in den Ofen schiebt, um die Farben einzubrenn­en. Oder sie die Haare auf den kleinen Köpfen mit dem Kamm drapiert. Vor der Haustür steht für den Boten schon ein Stapel Pakete, in denen Andi, Julien oder Rocky stecken, bereit zur Abreise in ein neues Heim. „Ich wünsche den Babys immer eine gute Zukunft“, sagt die 58-Jährige. Und ihren Puppenmami­s natürlich auch.

„80 Prozent der Kunden sind ganz normale Frauen, die ihrem Spieltrieb nachgehen.“

Marcel Fernikorn, der die Puppen vertreibt

„Es gibt eine lange Tradition, Puppen als Simulatore­n einzusetze­n.“

Insa Fooken, Psychologi­e-Professori­n

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 ?? FOTOS: DIRK GRUPE ?? In ihrer Kellerwerk­statt in Assamstadt kreiert Anette Fernikorn die lebensecht wirkenden Babys.
FOTOS: DIRK GRUPE In ihrer Kellerwerk­statt in Assamstadt kreiert Anette Fernikorn die lebensecht wirkenden Babys.

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