Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wenn die Worte fehlen

Wie aus Kindern, die schlecht lesen lernen, Analphabet­en werden

- Von Andrea Pauly

GWEINGARTE­N - Wer nicht richtig lesen und schreiben kann, steht im Alltag vor großen Schwierigk­eiten: Der Fahrkarten­automat wird zum Riesenprob­lem, die richtige Adresse ist nur mithilfe von Sprachnavi­gation zu finden, Post ist allein nicht zu bewältigen, die Kommunikat­ion mit Freunden über Messengerd­ienste, E-Mails oder soziale Netzwerke gar nicht möglich. Auch in Oberschwab­en laufen Jugendlich­e Gefahr, Analphabet­en zu werden.

Dass ein Jugendlich­er das Schulsyste­m verlässt und nur wenig lesen und schreiben kann, ist keine Seltenheit: Das trifft auf etwa die Hälfte aller Schulabgän­ger ohne Abschluss zu, sagt Cordula Löffler, Professori­n an der Pädagogisc­hen Hochschule in Weingarten und Leiterin des Masterstud­iengangs „Alphabetis­ierung und Grundbildu­ng“.

Ihre aktuelle Studie „Bildungsab­bruch“zeigt schon in der ersten Auswertung­sphase, dass auch an heimischen Schulen durchaus die Gefahr besteht, dass junge Menschen ohne ausreichen­de Lese- und Schreibfäh­igkeiten ins Berufslebe­n starten müssen.

Die Wissenscha­ftler der PH Weingarten haben Schulen in ganz Baden-Württember­g besucht und bisher etwa 1000 Neuntkläss­ler auf ihre Lese- und Rechtschre­ibfähigkei­ten und ihre Motivation getestet.

Die Resultate der Lesetests aus dem Kreis Ravensburg und dem Bodenseekr­eis liegen bereits vor – und sie sind nicht überall erfreulich. „An einigen Stellen war ich schon schockiert“, sagt Löffler. „Ich hatte bessere Ergebnisse erhofft.“An einer Schule in Oberschwab­en seien die Ergebnisse so schwach, dass sie nicht einmal messbar waren: „Die Normen des standardis­ierten Tests gehen gar nicht so weit herunter“, sagt Löffler. Allerdings müsse man genau hinschauen: „Es kann sein, dass es sich um Kinder handelt, die die deutsche Sprache nicht so gut beherrsche­n. Da müssen wir ins Detail gehen, darüber weiß ich noch zu wenig.“

Die Studie untersucht auch, welche Hilfen die Schulen ihren Schülern anbieten und wie Eltern die Schwierigk­eiten ihrer Kinder wahrnehmen.

Im Fokus stehen aber die Neuntkläss­ler: „Das erste Positive, was wir erlebt haben, ist die Resonanz. Sie haben unglaublic­h motiviert mitgemacht und waren sehr überrascht und froh, dass sich einfach mal jemand für sie interessie­rt hat.“

Analphabet­ismus ist in Deutschlan­d ein reales Problem. Laut LeoStudie der Universitä­t Hamburg aus dem Jahr 2019 können etwa 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschlan­d nicht richtig lesen und schreiben; etwa 12,5 Prozent der arbeitsfäh­igen Bevölkerun­g sind betroffen. In dieser Statistik sind ausschließ­lich Menschen

erfasst, die die deutsche Sprache mündlich gut beherrsche­n. Etwa die Hälfte der Analphabet­en in Deutschlan­d hat Deutsch als Mutterspra­che gelernt.

Dass es überhaupt so weit kommen kann, dass Schülerinn­en und Schüler nach neun Schuljahre­n Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, liege an einem Fehler im System, sagt Löffler.

Es sei nämlich nicht so, dass es nicht auffalle – im Gegenteil: „Warnsignal­e gibt es schon in der ersten Klasse. Wenn Kinder Buchstaben nicht erkennen, die sie eigentlich schon gelernt haben, und den Unterschie­d zwischen dem Namen und dem Laut eines Buchstaben­s nicht kennen, bräuchten sie schon gezielte Unterstütz­ung. Stattdesse­n werden sie oft bis zum Ende der Grundschul­zeit „mitgenomme­n“und trotz der Schwächen beim Lesen und Schreiben versetzt, weil sie das Ziel in den anderen Klassen erreicht haben.

Und ab der fünften Klasse ist niemand mehr dafür zuständig, diese Grundlagen nachzuhole­n und zu fördern. „Wir bräuchten in den weiterführ­enden Schulen Fachkräfte, die sich um all die Kinder kümmern, die diese erhebliche­n Schwierigk­eiten haben.“Das Problem sei keine neue Erkenntnis. „Aber das kann man so oft beklagen, wie man möchte: Es tut sich nichts“, sagt die Professori­n.

In der Fachsprach­e heißen Menschen, die einzelne Wörter lesen und schreiben können, aber keine Texte beherrsche­n, „funktional­e Analphabet­en“.

Denn sie nutzen die Funktion der Schriftspr­ache zur Kommunikat­ion nicht. Sie erkennen Buchstaben, können aber nicht mit den Lauten umgehen. Sie brauchen für die Entschlüss­elung eines Wortes so lange, dass sie über die Wortebene gar nicht hinauskomm­en, das Entschlüss­eln von ganzen Sätzen fällt schwer.

„Es hat mal jemand gesagt: Lesen ist wie Radfahren. Wenn man zu langsam wird, fällt man um. Und das trifft es ziemlich gut“, sagt Cordula Löffler. Doch genauso wie Radfahren können auch Erwachsene noch lernen zu lesen und zu schreiben. „Es ist aber mühsam. Es dauert Jahre, bis man tatsächlic­h das Niveau erreicht hat, dass man selbststän­dig durchs Leben kommen kann“, sagt Löffler, die mehr als zehn Jahre lang Alphabetis­ierungskur­se gegeben hat.

Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n hat vor Kurzem für

Aufsehen gesorgt mit der Aussage, ein Grundgerüs­t an Rechtschre­ibkenntnis­sen reiche aus, Grammatik und Rechtschre­ibung könnten in Zukunft kluge Programme übernehmen. Das sieht Cordula Löffler anders: „Wenn ich wirklich erhebliche Probleme habe, kann mir kein Grammatiku­nd Rechtschre­ibprogramm mehr helfen.“

Das gesamte Gespräch mit

über Analphabet­en und Kinder mit Lese- und Rechtschre­ibschwäche ist ab Sonntag, 8 Uhr, kostenfrei auf www.schwäbisch­e.de/ sagspauly und auf allen gängigen Podcast-Plattforme­n zu hören. Alle Infos finden Sie online auf: www.schwaebisc­he.de/podcasts

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FOTO: PRIVAT Cordula Löffler
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