Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Wenn die Worte fehlen
Wie aus Kindern, die schlecht lesen lernen, Analphabeten werden
GWEINGARTEN - Wer nicht richtig lesen und schreiben kann, steht im Alltag vor großen Schwierigkeiten: Der Fahrkartenautomat wird zum Riesenproblem, die richtige Adresse ist nur mithilfe von Sprachnavigation zu finden, Post ist allein nicht zu bewältigen, die Kommunikation mit Freunden über Messengerdienste, E-Mails oder soziale Netzwerke gar nicht möglich. Auch in Oberschwaben laufen Jugendliche Gefahr, Analphabeten zu werden.
Dass ein Jugendlicher das Schulsystem verlässt und nur wenig lesen und schreiben kann, ist keine Seltenheit: Das trifft auf etwa die Hälfte aller Schulabgänger ohne Abschluss zu, sagt Cordula Löffler, Professorin an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten und Leiterin des Masterstudiengangs „Alphabetisierung und Grundbildung“.
Ihre aktuelle Studie „Bildungsabbruch“zeigt schon in der ersten Auswertungsphase, dass auch an heimischen Schulen durchaus die Gefahr besteht, dass junge Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten ins Berufsleben starten müssen.
Die Wissenschaftler der PH Weingarten haben Schulen in ganz Baden-Württemberg besucht und bisher etwa 1000 Neuntklässler auf ihre Lese- und Rechtschreibfähigkeiten und ihre Motivation getestet.
Die Resultate der Lesetests aus dem Kreis Ravensburg und dem Bodenseekreis liegen bereits vor – und sie sind nicht überall erfreulich. „An einigen Stellen war ich schon schockiert“, sagt Löffler. „Ich hatte bessere Ergebnisse erhofft.“An einer Schule in Oberschwaben seien die Ergebnisse so schwach, dass sie nicht einmal messbar waren: „Die Normen des standardisierten Tests gehen gar nicht so weit herunter“, sagt Löffler. Allerdings müsse man genau hinschauen: „Es kann sein, dass es sich um Kinder handelt, die die deutsche Sprache nicht so gut beherrschen. Da müssen wir ins Detail gehen, darüber weiß ich noch zu wenig.“
Die Studie untersucht auch, welche Hilfen die Schulen ihren Schülern anbieten und wie Eltern die Schwierigkeiten ihrer Kinder wahrnehmen.
Im Fokus stehen aber die Neuntklässler: „Das erste Positive, was wir erlebt haben, ist die Resonanz. Sie haben unglaublich motiviert mitgemacht und waren sehr überrascht und froh, dass sich einfach mal jemand für sie interessiert hat.“
Analphabetismus ist in Deutschland ein reales Problem. Laut LeoStudie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2019 können etwa 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben; etwa 12,5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung sind betroffen. In dieser Statistik sind ausschließlich Menschen
erfasst, die die deutsche Sprache mündlich gut beherrschen. Etwa die Hälfte der Analphabeten in Deutschland hat Deutsch als Muttersprache gelernt.
Dass es überhaupt so weit kommen kann, dass Schülerinnen und Schüler nach neun Schuljahren Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, liege an einem Fehler im System, sagt Löffler.
Es sei nämlich nicht so, dass es nicht auffalle – im Gegenteil: „Warnsignale gibt es schon in der ersten Klasse. Wenn Kinder Buchstaben nicht erkennen, die sie eigentlich schon gelernt haben, und den Unterschied zwischen dem Namen und dem Laut eines Buchstabens nicht kennen, bräuchten sie schon gezielte Unterstützung. Stattdessen werden sie oft bis zum Ende der Grundschulzeit „mitgenommen“und trotz der Schwächen beim Lesen und Schreiben versetzt, weil sie das Ziel in den anderen Klassen erreicht haben.
Und ab der fünften Klasse ist niemand mehr dafür zuständig, diese Grundlagen nachzuholen und zu fördern. „Wir bräuchten in den weiterführenden Schulen Fachkräfte, die sich um all die Kinder kümmern, die diese erheblichen Schwierigkeiten haben.“Das Problem sei keine neue Erkenntnis. „Aber das kann man so oft beklagen, wie man möchte: Es tut sich nichts“, sagt die Professorin.
In der Fachsprache heißen Menschen, die einzelne Wörter lesen und schreiben können, aber keine Texte beherrschen, „funktionale Analphabeten“.
Denn sie nutzen die Funktion der Schriftsprache zur Kommunikation nicht. Sie erkennen Buchstaben, können aber nicht mit den Lauten umgehen. Sie brauchen für die Entschlüsselung eines Wortes so lange, dass sie über die Wortebene gar nicht hinauskommen, das Entschlüsseln von ganzen Sätzen fällt schwer.
„Es hat mal jemand gesagt: Lesen ist wie Radfahren. Wenn man zu langsam wird, fällt man um. Und das trifft es ziemlich gut“, sagt Cordula Löffler. Doch genauso wie Radfahren können auch Erwachsene noch lernen zu lesen und zu schreiben. „Es ist aber mühsam. Es dauert Jahre, bis man tatsächlich das Niveau erreicht hat, dass man selbstständig durchs Leben kommen kann“, sagt Löffler, die mehr als zehn Jahre lang Alphabetisierungskurse gegeben hat.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat vor Kurzem für
Aufsehen gesorgt mit der Aussage, ein Grundgerüst an Rechtschreibkenntnissen reiche aus, Grammatik und Rechtschreibung könnten in Zukunft kluge Programme übernehmen. Das sieht Cordula Löffler anders: „Wenn ich wirklich erhebliche Probleme habe, kann mir kein Grammatikund Rechtschreibprogramm mehr helfen.“
Das gesamte Gespräch mit
über Analphabeten und Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche ist ab Sonntag, 8 Uhr, kostenfrei auf www.schwäbische.de/ sagspauly und auf allen gängigen Podcast-Plattformen zu hören. Alle Infos finden Sie online auf: www.schwaebische.de/podcasts