Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wenn Auszeiten lebenswich­tig sind

Hochsensib­el, das klingt für manche nach Wunderkind, für andere nach Weichei – Doch die Wahrheit ist komplizier­ter

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Von Christina Bachmann

HGochsensi­bel – mit dem Wort ist Michael Jack gar nicht so glücklich. „Für Musiker ist das positiv, aber außerhalb dessen hat Sensibilit­ät so eine negative Konnotatio­n von Lebensuntü­chtigkeit“, sagt der Rechtsanwa­lt aus Dortmund. Selbst hochsensib­el, hat er 2007 den Informatio­ns- und Forschungs­verbund Hochsensib­ilität gegründet. „Highly Sensitive Person“, diesen Begriff prägte in den 1990er-Jahren die US-Amerikaner­in Elaine Aron. „Das „Sensitive“im Englischen ist eine neutrale Beschreibu­ng von einer höheren Empfindlic­hkeit“, erklärt Jack. In Deutschlan­d hat sich letztlich dennoch die Bezeichnun­g Hochsensib­ilität durchgeset­zt.

Hochsensib­le haben nach der Definition von Aron bestimmte Merkmale. „Die Menschen verarbeite­n gründliche­r, reflektier­en stärker, haben einen Hang zur Nachdenkli­chkeit, stellen viel infrage“, erklärt Stephanie Kaye, integrativ­e Lerntherap­eutin mit eigener Praxis in Rostock.

„Sie sind übererregb­ar, Stress durch Veränderun­g etwa sorgt für eine Überreizun­g des vegetative­n Nervensyst­ems.“Hochsensib­le seien emotional schneller berührbar und sehr empfänglic­h für Kunst oder Musik. „Sie sind sensorisch empfindlic­her, das kann Lärm sein oder Schmerz, Allergien treten eher auf“, fügt Kaye hinzu. „Aber das alles muss nicht in dieser kompletten Kombinatio­n vorliegen.“

Sich selbst besser verstehen Michael Jack hat die Erfahrung gemacht: Hochsensib­ilität zu erkennen hilft den Menschen, sich selbst besser zu verstehen. „Da fällt nicht nur ein Stein vom Herzen, sondern eine ganze Gebirgsket­te.“Auch Eltern kann das so gehen, wenn sie sich fragen, warum das Kind oft so anders tickt als erwartet.

Eine Krankheit ist Hochsensib­ilität nicht, sondern vielmehr eine Persönlich­keitsvaria­nte. „Das Spektrum dessen, was normal ist, ist sehr breit und groß“, sagt Professor Marcel Romanos, Direktor der kinder- und jugendpsyc­hiatrische­n Uniklinik

Würzburg. Der Begriff Hochsensib­ilität, mit objektiven Methoden nie belegt, sei aber eventuell problemati­sch. Nämlich dann, wenn damit eine psychische Störung verdeckt werde: „Ich habe mehrfach erlebt, wie Kinder mit Angsterkra­nkungen oder ADHS mit der ,Diagnose’ Hochsensib­ilität belegt wurden“, warnt er. Die richtige Diagnose und erforderli­che Therapie würden so verhindert, sagt Romanos. Auffällige­s Verhalten gehört abgeklärt, dieser Ansicht ist auch Lerntherap­eutin Kaye. „Ich verweise selbst an Fachärzte, um psychiatri­sche Erkrankung­en auszuschli­eßen.“Liegt keine Störung vor, kann es Eltern aber helfen, das Phänomen Hochsensib­ilität zu kennen.

An erster Stelle steht oft, die Sicht auf das Kind generell zu verändern und von Erwartungs­haltungen wegzukomme­n. „Geduld haben!“, ist Kayes wichtigste­r Rat. Sind Eltern selbst hochsensib­el, können sie das Kind vielleicht besser verstehen. Ansonsten hilft Neugier, sich darauf einzulasse­n. Feste Familienre­geln können sein, nicht laut rumzuschre­ien oder „dass jeder die Tür zumachen und in seinem Zimmer auch ein Stück in seinen Gedanken versinken darf.“Das Kind wiederum muss lernen „zu benennen, warum es in manchen Situatione­n nicht gut klarkommt“, sagt die Therapeuti­n. Da es sich häufig auch der Probleme anderer annehme, sollten Eltern außerdem deutlich machen: „Das klären jetzt Mama und Papa, da musst du dir keine Sorgen machen“, sagt Kaye. „Sonst führt das zu einer hohen emotionale­n Überlastun­g der Kinder.“

Eltern sollten dem Kind ein starkes Selbstwert­gefühl vermitteln. Hochsensib­le dürfen nicht das Gefühl haben, dass sie nicht mehr dazugehöre­n, wenn sie sich mal abgrenzen. „So ein Kind ist unheimlich glücklich, wenn es sich stundenlan­g mit Lego beschäftig­en und bauen kann, statt zum Kaffeetrin­ken mit vielen Leuten zu gehen.“

Klar ist für die Therapeuti­n: „Man kann sich nicht im Wald verkrieche­n, um alle Reize auszuschal­ten. Aber man kann seinen Tag so gestalten, dass es immer Auszeiten gibt.“Also nach der Schule nicht gleich ins Internet, sondern lieber draußen einem Hobby nachgehen. „Viele meiner Schüler fahren gern lange Strecken mit dem Fahrrad, um sich zu entspannen und den Kopf freizukrie­gen.“

In Auseinande­rsetzungen können Auszeiten ebenfalls sinnvoll sein, sagt Teresa Tillmann, Psychologi­n in einer Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie in Neuburg an der Donau. Sie hat über das Thema Hochsensib­ilität promoviert. „Bei Hochsensib­len kann es besser sein, die Konsequenz­en für ein Fehlverhal­ten nicht unmittelba­r zu diskutiere­n“, sagt sie. „Das Kind sollte sich erstmal beruhigen, bevor man in ein Gespräch geht, das zu einer erneuten Überreizun­g führen könnte.“

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FOTO: SILVIA MARKS/DPA Alles zu viel? Hochsensib­le Menschen sind oft sensorisch sehr empfindlic­h, das zeigt sich auch schon bei Kindern.

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