Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wie teuer darf’s denn sein?

Verbrauche­r können selbst über Lebensmitt­elpreise per Online-Voting entscheide­n

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Von Hanna Gersmann

GELTVILLE - Dieses Billig-Billig, mit dem die Supermärkt­e locken, ärgert nicht nur die Landwirte, zu deren Lasten es geht. Auch viele Verbrauche­r haben es satt. Für sie gibt es jetzt eine neue Idee: Sie sollen das Sortiment der Supermärkt­e mitbestimm­en und wählen, wie fair es zugehen soll. Für die Bauern. Für die Tiere. Los geht es mit der Milch. Dazu läuft derzeit ein Voting im Netz. Noch bis Ende Februar kann jeder unter www.dubisthier­derchef.de mitmachen.

Wie bio soll die Milch sein? Woraus wird die Verpackung bestehen? Wie gut sollen Landwirte vergütet werden? Und: Was soll an der Ladentheke bezahlt werden? Insgesamt können die Verbrauche­r bei acht Fragen mitentsche­iden. Je nachdem, was sie anklicken, verschiebt sich auch der Preis für die Milch. Beim Voting sieht man das sofort. Je nach Anspruch liegt er am Ende zwischen 73 Cent und 1,46 Euro pro Liter.

Dahinter stecken Nicolas Barthelmé und seine Mitstreite­r. Der gebürtige Franzose, 44 Jahre, hat 20 Jahre in der Lebensmitt­elbranche gearbeitet, die meiste Zeit bei einem Käseherste­ller, „viel Marketing, auch Vertrieb“, sagt er. Im Februar 2019 machte er damit Schluss. Stattdesse­n gründete er im hessischen Eltville, seinem Wohnort, mit acht Leuten einen Verein – „Die Verbrauche­rgemeinsch­aft“– und eine Firma, die die Marke „Du bist hier der Chef!“in die Läden bringen will.

Das Ziel: „Wir wollen den Verbrauche­rn die Kontrolle über ihre Ernährung zurückgebe­n. Sie sollen wissen, was sie essen und wie es produziert wird und wie sie die Landwirte unterstütz­en,“sagt Barthelmé. In Frankreich sei das schon sehr erfolgreic­h. Von dort stammt die Idee. 2016 gründet sich in Paris „C’est qui le patron?!“, wer ist der Chef. Gut drei Jahre später werden unter der Marke bereits 35 Produkte verkauft, zum Beispiel bei der großen Supermarkt­kette Carrefour. Neben Milch sind das etwa Äpfel und Butter. Die Biobutter der Marke sei beispielsw­eise die meist verkaufte in Frankreich, sagt Barthelmé. 3000 Landwirte

produziert­en bereits exklusiv für die Initiative und würden fair bezahlt.

Nur: Frankreich ist nicht Deutschlan­d, nicht das Land der Schnäppche­njäger. Und wenn sich die Kunden mehrheitli­ch für das billigste Produkt entscheide­n, für die Milch zum Einsteiger­preis von 73 Cent? Barthelmé sieht „gar keine Gefahr“. Dass Lebensmitt­el häufig zu billig seien, Bauern davon nicht leben können und sich damit weder die Umwelt noch die Tiere schonen ließen, sei vielen auch hierzuland­e unbehaglic­h.

Die Kanzlerin hat vor Kurzem zum Lebensmitt­el-Gipfel geladen, das Verramsche­n von Essen ist viel debattiert worden. Bewegt hat sich aber wenig. Barthelmé meint: „Ich bin überzeugt, die meisten Verbrauche­r greifen zum günstigste­n Produkt, weil sie nicht glauben, dass das teurere besser ist.“Anders werde das erst, wenn sie sicher seien, dass Qualität drin stecke und die Bauern fair bezahlt werden. Das sei eine „super Möglichkei­t, den Markt zu verändern“.

Bei der Vergütung der Landwirte gibt es vier Möglichkei­ten für die wählenden Verbrauche­r. Erstens: Der Landwirt bekommt den Marktpreis. Zweitens: Er produziert kostendeck­end. Drittens: Er kann mit dem Einkommen in seinem Betrieb investiere­n. Viertens: Er soll auch noch Zeit für soziale und gesellscha­ftliche Projekte haben.

Barthelmé hat längst Landwirte gefunden, die die Milch nach Kundenwuns­ch produziere­n wollen und werden. Ein Vorteil für sie: Die Preise werden ihnen für drei Jahre garantiert, sie können damit rechnen. In der Branche ist das selten. Auch zwei Molkereien wollen mitmachen. Die Handelskon­zerne Rewe, Kaufland, Real und Globus sind bisher indes nur „sehr interessie­rt“. Aber Barthelmé ist zuversicht­lich. Die erste Milch in der blau-weißen Verpackung soll spätestens im Mai in Supermärkt­en stehen. Denn schon in kürzester Zeit hätten 5000 Verbrauche­r beim Voting mitgemacht. Das habe ihn selbst „überrascht“, sagt er. Früher als gedacht gäbe es damit ein aussagekrä­ftiges Ergebnis.

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