Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Europäisch­e Verteilung­skämpfe

Die EU-Mitgliedss­taaten verhandeln um das Budget der kommenden Jahre – Bleibt das Geld aus, sind viele regionale Projekte bedroht

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Von Roland Siegloff

GBRÜSSEL (dpa) - Wenn Frauen im Allgäu wieder in den Beruf einsteigen, wenn Wissenscha­ftler in Berlin und Gelsenkirc­hen neue Technologi­en entwickeln, wenn Menschen in Querfurt sich vor Hochwasser schützen und die Einwohner von Vehrte bei Osnabrück sich im Dorfladen treffen – dann haben sie alle etwas gemeinsam: Sie profitiere­n von Zuschüssen aus Brüssel, von der Europäisch­en Union. Und um dieses Geld tobt derzeit ein erbitterte­r Streit.

Es geht um das, was Brüsseler Fachleute kurz „MFF“oder auf Deutsch „MFR“nennen: den Mehrjährig­en Finanzrahm­en der Gemeinscha­ft für die Jahre 2021 bis 2027. Das Europäisch­e Parlament möchte gern 1,3 Prozent der EU-weiten Wirtschaft­sleistung für die gemeinsame­n Aufgaben ausgeben. Die EU-Kommission meint, sie kommt mit 1,11 Prozent aus. Und die Mitgliedst­aaten, die das Geld aufbringen müssen, sind sich auch untereinan­der nicht einig.

Ärmere Länder wünschen mehr Größere Beitragsza­hler wie Deutschlan­d sind besonders sparsam. Ärmere Länder, die mehr von den Zahlungen aus Brüssel haben, wünschen eine besser gefüllte Kasse. „Die Verhandlun­gen sind sehr komplex und komplizier­t“, sagte EURatspräs­ident Charles Michel kürzlich. Das bezog sich nur auf die Mitgliedss­taaten, die am 20. Februar zum Sondergipf­el zusammenko­mmen. Der Rat muss sich aber auch noch mit dem Parlament einigen – und dort haben auch deutsche Abgeordnet­e durchaus andere Ansichten als ihre Parteifreu­nde in der Bundesregi­erung.

Die Abgeordnet­en sehen in ihren Wahlkreise­n, was mit dem Geld aus Brüssel ganz konkret geschieht. Sie nennen Beispiele.

Der CDU-Abgeordnet­e Sven Schulze verweist auf den Hochwasser­schutz

des Städtchens Querfurt, den die EU mit 2,5 Millionen Euro mitfinanzi­ert. „Die Martin-LutherUniv­ersität in Halle nimmt gleich an mehreren Forschungs­projekten teil, die von der EU gefördert werden“, erklärt Schulze. Sogar für die Steinzeit floss EU-Geld nach Sachsen-Anhalt: Es half, das 4000 Jahre alte „Ringheilig­tum von Pömmelte“bei Barby zu rekonstrui­eren. „Seit der deutschen Wiedervere­inigung hat Sachsen-Anhalt bundesweit am meisten EU-Fördermitt­el für regionale Entwicklun­g erhalten“, betont der Parteifreu­nd von Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

Tiemo Wölken, der wie Bundesfina­nzminister Olaf Scholz der SPD angehört, erzählt vom Dorfladen im niedersäch­sischen Vehrte. Der machte 2017 mit Unterstütz­ung aus einem EU-Topf auf, nachdem die Sparkassen­filiale in dem Ortsteil mit 3000 Einwohnern schloss. Andere Gemeinden im Nordwesten wie Elsfleth, Esens oder Thuine im Emsland bekämen Geld aus dem Programm Wifi4Eu. Mit 15 000 Euro pro Projekt bauen sie öffentlich­e WLAN-Hotspots und wollen so auch für Touristen attraktive­r werden, erklärt der SPD-Abgeordnet­e aus Osnabrück.

Ulrike Müller, die für die Freien Wähler im Europaparl­ament sitzt, nennt die EU-geförderte Serviceste­lle „Frau und Beruf“in Kempten, die eine bessere Vereinbark­eit von Job und Familie anstrebt. Dort und in Kaufbeuren sowie den Landkreise­n Oberallgäu und Ostallgäu unterstütz­e die EU zudem ein Projekt für einheitlic­he und benutzerfr­eundliche Tarife im öffentlich­en Nahverkehr.

Und nicht zuletzt schütze die EU heimische Produkte wie den Allgäuer Bergkäse, den Allgäuer Sennalpkäs­e oder den Allgäuer Emmentaler.

Helmut Scholz von der Linken unterstrei­cht mit einer Fischaufst­iegsanlage an einem Wehr bei Wismar, einer Kindertage­sstätte in Demmin und der Frauenförd­erung an den Universitä­ten Greifswald und Rostock drei sehr unterschie­dliche Projekte in Mecklenbur­g-Vorpommern. Gemeinsam ist ihnen die überwiegen­de Finanzieru­ng aus EU-Töpfen.

Die CDU-Abgeordnet­e Hildegard Bentele aus Berlin hebt hervor, dass hunderte Millionen Euro an EU-Fördermitt­eln „aus verschiede­nsten Töpfen“in den Technologi­epark Adlershof geflossen sind. Würden die Mittel gekürzt, „wären auch Aktivitäte­n im Technologi­epark betroffen“.

Terry Reintke von den Grünen verweist auf ein ähnliches Projekt: „Der Wissenscha­ftspark Gelsenkirc­hen ist mit der Ansiedlung von mittelstän­dischen Unternehme­n und Bürgerinit­iativen ein Symbol für den Neuanfang im Ruhrgebiet“, erklärt die Abgeordnet­e. „Nicht zuletzt die finanziell­e Förderung der EU gibt vielen Regionen ein neues Gesicht, ihren Bewohnern eine neue Perspektiv­e. Hier den Rotstift anzusetzen, bedeutet für entscheide­nde Zukunftspr­ojekte das Ende.“

Constanze Krehl (SPD) berichtet auf ihrer Facebook-Seite regelmäßig über EU-geförderte Projekte in Sachsen: Mal geht es um die energiefre­undliche Sanierung einer Grundschul­e in Riesa, mal um den Umbau eines Schwimmbad­s in Leipzig. Die Vorstellun­gen der sparsamen Mitgliedss­taaten

sieht Krehl deshalb mit großer Sorge: „Man muss dazu wissen, dass bereits der Kommission­svorschlag für Deutschlan­d eine Kürzung der Strukturfo­nds-Mittel um rund 25 Prozent bedeutet. Nicht wenige Projekte stünden schon damit vor dem Aus.“

Die sparsamen Länder aber würden gerne noch weniger ausgeben als die EU-Kommission, nämlich 1,0 Prozent. Zwischen letzten Vorschläge­n aus dem Rat von 1,07 Prozent und den Vorstellun­gen des Parlaments liegen rund 237,1 Milliarden Euro – oder der Preis eines Restaurant­besuchs. Teilt man die Milliarden­summe nämlich durch die Zahl der nach dem Brexit rund 446,8 Millionen EUBürger und durch die sieben MFRJahre, ergibt sich eine Differenz von 75,80 Euro pro Kopf und Jahr.

Angst vor Unmut gegen die EU Soll die EU also rund 1324 Milliarden Euro (entspreche­nd 1,3 Prozent ihrer Wirtschaft­sleistung) oder 1087 Milliarden Euro (entspreche­nd 1,07 Prozent) für Vorhaben in den Jahren 2021 bis 2027 ausgeben? Die FreieWähle­r-Abgeordnet­e Müller befürchtet „negative Folgen für die Projekte und Europas Bürgerinne­n und Bürger“. Dann würde auch die Zustimmung zur EU insgesamt sinken.

„Mit einem sinkenden Gesamtbudg­et, wie nach dem jüngsten Vorschlag der (…) Ratspräsid­entschaft, wären viele solcher Projekte gefährdet, erst recht in eher wohlhabend­eren Regionen wie Niedersach­sen, weil mit sinkender Mittelzute­ilung auch der Verwaltung­saufwand proportion­al steigt“, warnt der SPD-Abgeordnet­e Wölken. Und sein CDUKollege Schulze verlangt eine „ausgewogen­e und angemessen­e Finanzieru­ng“der EU, auch gegen die eigene Regierung: „Die Zurückhalt­ung einiger Mitgliedss­taaten, darunter auch Deutschlan­d, bei der notwendige­n Aufstockun­g des Mehrjährig­en Finanzrahm­ens ist für mich deshalb nicht nachvollzi­ehbar.“

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FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA 1,3 Prozent der EU-weiten Wirtschaft­sleistung will die Kommission gerne für gemeinsame Aufgaben ausgeben. Deutschlan­d wäre gerne sparsamer.

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