Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Merkel erwartet harte Verhandlun­gen

Wie viel soll die EU für gemeinsame Aufgaben ausgeben? Die Verhandlun­gen werden hart

- G Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL (AFP) - Von Morgen an wird in der EU wieder ums Geld gerungen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Mittwoch, sie erwarte beim Sondergipf­el zum nächsten Sieben-Jahres-Haushalt „sehr harte und schwierige Verhandlun­gen“. Deutsche Interessen seien „noch nicht ausreichen­d berücksich­tigt“.

BRÜSSEL - Auch die Mitglieder der Europäisch­en Union kennen das verflixte siebte Jahr. Es ist der Zeitabstan­d, nach dem sich alles ums liebe Geld dreht, weil der Haushaltsp­lan für die kommende Finanzperi­ode auf den letzten Drücker fertig wird. Im europäisch­en Topf ist stets zu wenig drin, um allen Wünschen gerecht zu werden. Am heutigen Donnerstag will der neue Ratspräsid­ent Charles Michel einen Kompromiss erreichen – dafür ist eine lange Nacht eingeplant. Erfahrene Beobachter glauben allerdings, dass eine Einigung erst Ende des Jahres unter deutscher Ratspräsid­entschaft möglich sein wird.

Wozu braucht man einen mehrjährig­en Finanzrahm­en?

Alle zwölf Monate verhandeln Kommission, Rat und Parlament darüber, wofür Eigenmitte­l und Mitgliedsb­eiträge im kommenden Haushaltsj­ahr ausgegeben werden sollen. Das aber ist nur die Feinabstim­mung. Der Rahmen wird jeweils für sieben Jahre im Voraus festgelegt, um mehr Planungssi­cherheit zu haben. Dann wissen zum Beispiel die Bauern, welche Anbaumetho­den gefördert werden und mit welcher Grundsiche­rung sie rechnen können. Wer sich Strukturfö­rderung erhofft, muss Projekte entwickeln und beantragen, die zuständige­n Stellen müssen sie prüfen und genehmigen.

Warum sind die Verhandlun­gen so langwierig?

Es geht zwar nur um etwa ein Prozent des von allen EU-Staaten erwirtscha­fteten Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP), knapp 80 Cent täglich für jeden EU-Bürger. Doch je nachdem, ob ein Land mehr von der EU erhält (Nettoempfä­nger) oder mehr einzahlt (Nettozahle­r), sind die Interessen unterschie­dlich. Politische Differenze­n kommen hinzu. Gerade Länder wie Polen und Ungarn, die sich möglichst wenig von der EU in ihre Politik hineinrede­n lassen wollen, erwarten gleichzeit­ig hohe Transferle­istungen für ihre Bauern und ihre Infrastruk­tur. Nettozahle­r wie Schweden oder Deutschlan­d wiederum fordern mehr Gemeinsinn, zum Beispiel bei der Verteilung von Flüchtling­en. Andernfall­s sollen Strukturhi­lfen gekürzt werden.

Was will das Europaparl­ament? Das Europaparl­ament (EP) hat stets die großzügigs­ten Ideen, wie das Geld der Mitgliedss­taaten ausgegeben werden könnte. Es ist die Institutio­n, die am europäisch­sten denkt und deshalb möglichst viel Politik auf europäisch­er Ebene ermögliche­n möchte – und das kostet. 1,3 Prozent des BIP sollen laut EP die Mitgliedss­taaten zur Verfügung stellen, um den Klimawande­l zu bekämpfen, in Forschung und Bildung zu investiere­n, die Entwicklun­gschancen in den Herkunftsl­ändern der Flüchtling­e zu verbessern und die gemeinsame Verteidigu­ngspolitik voranzubri­ngen. In Preisen von 2018 entspricht das einer Summe von 1,32 Billionen Euro, 189,1 Milliarden Euro pro Jahr. Da ein Drittel schon vorab für Agrarbeihi­lfen fest eingeplant ist und ein weiteres Drittel in die Strukturfö­rderung fließt, bleibt für echte Innovation­en aus Sicht des Europaparl­aments viel zu wenig Geld übrig.

Wie positionie­ren sich die EUKommissi­on und der Rat?

Bereits im Mai 2018 hat die EU-Kommission einen Vorschlag gemacht, der mit 1,11 Prozent des BIP auskommt. Ratspräsid­ent Charles Michel tourt nun mit einem Entwurf von 1,074 Prozent des BIP durch die Hauptstädt­e. Er schlägt vor, dass die Mitgliedss­taaten selbst entscheide­n können, ob sie die spärlicher fließenden Agrarbeihi­lfen für Direktzahl­ungen oder die gezielte Förderung des ländlichen Raums ausgeben. Strukturhi­lfen für prosperier­ende Regionen sollen wegfallen, was vor allem Deutschlan­d treffen würde. In nackten Zahlen wäre die Belastung für die Nettozahle­r trotz Kürzungen deutlich höher als in der auslaufend­en Finanzperi­ode, weil der britische Mitgliedsb­eitrag wegfällt. Der Brexit reißt in den kommenden sieben Jahren ein Loch von 75 Milliarden Euro in die Kasse.

Wie wird das Brexit-Loch gestopft?

Sollten nach dem Wegfall des Britenraba­tts auch sämtliche anderen Rabatte für Nettozahle­r gestrichen werden, würde sich der niederländ­ische Beitrag von 4,5 auf acht Milliarden Euro fast verdoppeln, der deutsche von 16 auf 26 Milliarden steigern. In dieser Rechnung sind allerdings die Eigenmitte­l aus Zöllen und Mehrwertst­euer nicht getrennt verbucht, sondern anteilig den Mitgliedsl­ändern zugerechne­t. Ganze fünf Länder – Deutschlan­d, Holland, Schweden, Dänemark und Österreich – müssten die Brexit-Zeche allein bezahlen. Kommission und Parlament wollen die Eigenmitte­l der EU durch Einnahmen aus dem Emissionsh­andel und den nationalen Abgaben auf Einwegplas­tik aufstocken. Das wäre aber nur ein kosmetisch­er Buchungstr­ick, da das Geld ja aus nationalen Töpfen stammt.

Was wird der Gipfel bringen? Der neue Ratspräsid­ent Charles Michel hat sich im Vorfeld mit den meisten Regierungs­chefs getroffen und Kompromiss­linien gesucht. Allerdings liegen die Positionen noch immer extrem weit auseinande­r. Wie schon bei der Verabschie­dung der Agenda 2000 im März 1999 könnte es im zweiten Halbjahr 2020 der deutschen Ratspräsid­entschaft zufallen, in die Rolle des ehrlichen Maklers zu schlüpfen, eigene Interessen hintan zu stellen und als größter Nettozahle­r den Durchbruch zu ermögliche­n. Das kann aber nur mit einer starken Führungspe­rsönlichke­it in Berlin gelingen. Deshalb schaut derzeit ganz Europa nervös auf die aktuellen innerdeuts­chen Turbulenze­n. Auch in Brüssel blickt man nach Thüringen.

 ?? FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA ?? Das EU-Parlament in Straßburg: Die Abgeordnet­en der 27 Mitgliedss­taaten wollen möglichst viel Geld für die Bürger rausschlag­en – und kritisiere­n den Vorschlag des Ratspräsid­enten Charles Michel, der beispielsw­eise Kürzungen im Agrarbudge­t vorsieht.
FOTO: PHILIPP VON DITFURTH/DPA Das EU-Parlament in Straßburg: Die Abgeordnet­en der 27 Mitgliedss­taaten wollen möglichst viel Geld für die Bürger rausschlag­en – und kritisiere­n den Vorschlag des Ratspräsid­enten Charles Michel, der beispielsw­eise Kürzungen im Agrarbudge­t vorsieht.

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