Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Das letzte Urteil
Im Saal 600 des Nürnberger Justizpalasts wurden die Kriegsverbrecher des Nationalsozialismus verurteilt – Nun wird er Teil eines Museums
Von Michael Donhauser
GNÜRNBERG (dpa) - Es ist vermutlich der berühmteste Gerichtssaal der Welt: Mit 246 Quadratmetern Fläche so groß wie zwei Einfamilienhäuser, mit 6,7 Metern Raumhöhe so hoch wie eine Sporthalle, steht der mächtige Saal 600 im historischen Nürnberger Justizpalast für ein Jahrhundert deutscher Justizgeschichte. In diesen Tagen erlebt der „600er“, wie die Juristen sagen, nach mehr als 100 Jahren sein letztes Urteil. Danach ist der Saal nur noch Museum – als Teil des Nürnberger Memoriums, das an die Kriegsverbrecherprozesse nach 1945 erinnert. Sollte der Plan von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und den Nürnberger Stadtvätern aufgehen, wird er irgendwann zum Weltkulturerbe gekürt.
Luftwaffen-Kommandeur Hermann Göring, Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, Reichspräsident Karl Dönitz – 24 Köpfe der obersten NaziProminenz nahmen in diesem Saal vom 20. November 1945 an Platz – auf einer von einem US-Ingenieur angefertigten Anklagebank, die angeblich bei längerem Sitzen besonders unbesonders quem gewesen sein soll. Zwölf NaziObere wurden von dem eigens eingerichteten Internationalen Militärgerichtshof – bestehend aus Richtern und Anklägern der vier Siegermächte – verurteilt.
Wohl kein anderer Gerichtssaal hat eine solch wechselvolle Geschichte hinter sich. In vier Gesellschaftssystemen wurde in dem von schweren Eichenvertäfelungen gesäumten Raum Recht – und wohl auch Unrecht – gesprochen. Eingeweiht 1916 noch vom bayerischen König Ludwig III., wurde der Raum in der Weimarer Republik als Schwurgerichtssaal genutzt. Bei einem für damalige Zeiten aufsehenerregenden Prozess sagte 1925 Adolf Hitler als Zeuge aus – es ging um Beleidigung, geklagt hatte der damalige Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe gegen den Herausgeber der Hetzschrift „Der Stürmer“, Julius Streicher.
Später machten sich die Nationalsozialisten den Saal zu eigen – und inszenierten bei einem ihrer über 70 „Sondergerichte“Urteile, etwa gegen politisch unbequeme Bürger. Das Nürnberger Sondergericht, das meist im Saal 600 tagte, galt als bebrutal. Mehr als 80 Todesurteile sind überliefert, unter anderem von Richter Oswald Rothaug, genannt der „Scharfrichter“.
Er soll unter anderem einen polnischen Zwangsarbeiter allein wegen dessen angeblicher Zugehörigkeit „zum Untermenschentum“zum Tode verurteilt haben, wie der Publizist Wolf Stegemann schreibt. Berühmt wurde auch Rothaugs Todesurteil gegen Leo Katzenberger wegen „Rassenschande“– ein Verhältnis zu einer nichtjüdischen Frau wurde dem Angeklagten angelastet. 1947 saß Rothaug im Saal 600 selbst auf der Anklagebank – und wurde in einem Nachfolgeprozess gegen Naziverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Juristenprozess unter anderem gegen Rothaug wurde vor allem durch den US-Kinostreifen „Urteil von Nürnberg“berühmt. „Wo saß eigentlich Spencer Tracy“, fragt eine ältere Besucherin, als sie gemeinsam mit ihrem Mann den Saal besichtigt. Der US-Schauspieler spielte den Vorsitzenden Richter Dan Haywood in dem Film – einem von unzähligen, in denen der Saal 600 zum Hauptschauplatz wurde.
Nach den Kriegsverbrechern folgten unter bayerischer Justizhoheit und bundesrepublikanischem Recht wieder „normale“Verbrecher, die auf der Anklagebank Platz nahmen – Mörder, Totschläger, Vergewaltiger. Der Saal ähnelt heute nur noch grob dem Raum, der unter alliierter Führung 1945 in aller Welt bekannt war. Die Amerikaner hatten die Rückwand herausnehmen und eine Zuschauertribüne einbauen lassen, die Kronleuchter wurden durch Neonlichter ersetzt. Nach Ende der Prozesse wurde vieles rückgebaut. Wer heute genau hinsieht, kann noch helle Flecken in der Wandvertäfelung erkennen – dort hatten die Alliierten einst Öffnungen anbringen lassen.
Trotz des Umbaus in den 1960erJahren und ständiger Modernisierungen ist der Saal 600 nie ein moderner Gerichtssaal geworden – nicht nur wegen des überdimensionierten Kruzifixes über der Richterbank.
Die Vorsitzende der Schwurgerichtskammer am Landgericht Nürnberg-Fürth, Barbara RichterZeininger, verlässt den Saal deshalb mit gemischten Gefühlen. Das gesamte Ensemble, inklusive des Besprechungszimmers für Richter, sei einzigartig.
Aber es gebe auch gravierende Nachteile. „Manche Zeugen sind von der Wirkung des Raumes erst einmal beeindruckt“, sagt die Richterin. Auch auf manche Angeklagte wirke der Saal zunächst beängstigend. „Für sie ist das sehr belastend“, erinnert sich die Juristin. Unter anderem können wegen der baulichen Voraussetzungen auch die Verteidiger nicht neben den Angeklagten sitzen – ein Umstand, der nach deutscher Rechtsprechung nur noch mit einer Sondergenehmigung möglich ist.
Der Letzte, der im Saal 600 von Barbara Richter-Zeininger sein Urteil erfahren wird, ist am Donnerstag ein Mann, der versucht haben soll, seine Frau zu erwürgen. Im historischen Maßstab ist die letzte dort verhandelte Tat vergleichsweise harmlos – und das zu erwartende Strafmaß angesichts unzähliger verhängter Todesstrafen ohnehin.