Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Deutschlan­dweit mehr Polizeiprä­senz

Innenminis­ter Seehofer bezeichnet Rechtsextr­emismus nach Hanau als größte Bedrohung

- Von Anne-Beatrice Clasmann und Martina Herzog

Von Klaus Wieschemey­er

GBERLIN - Nach dem offenbar rassistisc­h motivierte­n Anschlag in Hanau hat Bundesinne­nminister Horst Seehofer eine stärkere Polizeiprä­senz in ganz Deutschlan­d angekündig­t. „Die Gefährdung­slage durch Rechtsextr­emisten, Antisemite­n und Rassismus ist in Deutschlan­d sehr hoch“, sagte der CSU-Politiker am Freitag in Berlin. Der Rechtsextr­emismus sei die aktuell größte Sicherheit­sbedrohung im Land. Er fordere „nicht mehr Personal, auch nicht mehr Paragrafen“, sagte Seehofer. Stattdesse­n müssten die neuen Befugnisse der Sicherheit­sbehörden genutzt werden. Allerdings regte er einen psychologi­schen Eignungste­st für Waffenbesi­tzer an.

Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) verwies auf das vergangene Woche vom Kabinett auf den Weg gebrachte Gesetz gegen Hetze im Internet. Sie wolle den geistigen Nährboden für Hass „trockenleg­en“, kündigte Lambrecht an. Die Bundesregi­erung stehe fest zur Meinungsfr­eiheit, doch es sei keine Meinungsäu­ßerung, „wenn man einem Bürgermeis­ter einen Galgen in den Garten stellt“, sagte Lambrecht. Auch sie bezeichnet­e den Rechtsextr­emismus als aktuell größte Gefahr für die Demokratie.

In der Nacht zu Donnerstag hatte der Bundesanwa­ltschaft zufolge der anscheinen­d psychisch kranke Tobias R. im hessischen Hanau neun Menschen mit ausländisc­hen Wurzeln erschossen. Anschließe­nd tötete der 43-jährige Sportschüt­ze demnach seine Mutter und sich selbst. Nach Angaben von Generalbun­desanwalt Peter Frank suchen die Ermittler

derzeit nach Kontaktper­sonen. Man habe allerdings noch keine Hinweise auf Mitwisser oder Unterstütz­er. Frank zufolge hatte seine Behörde im November 2019 bereits Kontakt zum mutmaßlich­en Attentäter: R. hatte bei zahlreiche­n Behörden Anzeigen erstattet. Der Bundesanwa­ltschaft gegenüber zeigte er einen unbekannte­n Geheimdien­st an, der sich „in die Gehirne einklinkt“, um das Weltgesche­hen zu steuern.

Die psychische Störung des mutmaßlich­en Täters sei kein Grund zur Entwarnung, betonte Seehofer. „Der rassistisc­he Hintergrun­d dieser Tat ist unbestritt­en und kann durch nichts relativier­t werden“, sagte der CSU-Politiker. Nach dem Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke und dem Anschlag auf die Synagoge in Halle habe es nun binnen kurzer Zeit drei Bluttaten von Rechtsterr­oristen gegeben, betonte er. Zudem seien weitere Anschläge rechter Terrorzell­en verhindert worden. Dabei seien große Mengen an Sprengstof­f, Kalaschnik­ow-Gewehren und Handgranat­en gefunden worden.

Zahlreiche Politiker gaben der AfD eine Mitschuld an der rechten Gewalt. SPD und Grüne forderten eine Beobachtun­g der gesamten AfD durch den Verfassung­sschutz. Bisher gelten nur Teilorgani­sationen wie der rechtsnati­onale „Flügel“als Verdachtsf­all. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir bezeichnet­e die AfD im Deutschlan­dfunk als „politische­n Arm des Hasses“.

Die AfD wies das zurück: Fraktionsc­hef Alexander Gauland bezeichnet­e es als schäbig, die Tat eines völlig geistig Verwirrten zu instrument­alisieren.

HANAU/BERLIN (dpa) - Gift kann schnell töten oder langsam wirken. „Rechtsextr­eme, antisemiti­sche, rassistisc­he Thesen sind Gift. Ein Gift, das Verwirrung in den Köpfen auslöst und auch dafür sorgt, dass das Böse hervortrit­t“, sagt Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) und greift damit eine Formulieru­ng von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf. Doch woher kommt dieses Gift? Woran liegt es, dass in einem Dreivierte­ljahr gleich drei Rechtsterr­oristen ihre Fantasien in die Tat umsetzen und Verschwöre­rbanden Waffen beschaffen, um Moscheen anzugreife­n?

Tobias R., der Todesschüt­ze von Hanau, hing wirren, menschenve­rachtenden Verschwöru­ngstheorie­n an – wie viele andere. Er glaubte, er beeinfluss­e das Weltgesche­hen und die Strategien des Deutschen Fußball-Bundes über eine Geheimorga­nisation, die seine Gedanken mitliest. Der Chef des Bundeskrim­inalamts, Holger Münch, spricht auf Grundlage erster Einschätzu­ngen von einer „schweren psychotisc­hen Krankheit“.

Doch R. war eben auch ein Rassist, der von der Vernichtun­g ganzer Völker und Gruppen träumte, am besten per Knopfdruck. Seine und ähnliche Verschwöru­ngstheorie­n seien „der Nährboden, der Hass sich entwickeln lässt, der dann zu solchen Taten führt“, sagt Justizmini­sterin Christine Lambrecht (SPD).

Diesen Nährboden düngen viele und vieles. Verschwöru­ngstheorie­n machen eine verwirrend komplexe Welt einfacher, ebenso wie die rassistisc­he Idee einer vermeintli­chen biologisch­en Überlegenh­eit. Politische Verantwort­ung für globale Entwicklun­gen lässt sich kaum einzelnen Akteuren zuschreibe­n.

Einen überforder­ten Staat haben die Bürger mehrmals erlebt: Im Umgang mit der Finanz- und Bankenkris­e und auch angesichts des Andrangs Hunderttau­sender Schutzsuch­ender 2015 und danach. Viele Menschen im Osten des Landes haben sich nach dem Ende der DDR dem Zwang ausgesetzt gesehen, sich beruflich neu zu erfinden. Die Politik fand Antworten – aber sie ließ auch viele Unzufriede­ne zurück.

Wenn es darum geht, das Abdriften von Bürgern in radikale Parallelwe­lten zu verhindern, bedarf es auch politische­r Handlungsf­ähigkeit. Die Politik hat reagiert auf den Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke (CDU) und den antisemiti­schen Anschlag von Halle. Die Sicherheit­sbehörden bekommen mehr Stellen, die Verbreitun­g von Hass im Netz soll schärfer verfolgt werden und einiges mehr.

Doch zugleich kreisen die Parteien um sich selbst. Thüringen, wo die AfD mit einer politische­n Finte zuletzt ein Erdbeben ausgelöst hatte, das in letzter Konsequenz den Sturz von CDU-Chefin Annegret KrampKarre­nbauer zur Folge hatte, ist nur ein Beispiel.

Seit Monaten wird diskutiert, wie lange die Regierungs­koalition aus CDU, CSU und SPD wohl noch halten wird. CSU-Chef Markus Söder bricht mitten in der Legislatur eine Debatte über die Neubesetzu­ng von Ministerpo­sten vom Zaun. Die Meinungsum­fragen sind Schläge in die Magengrube für die regierende­n Parteien. Derweil bereiten sich „Prepper“, Reichsbürg­er und Rechtsextr­emisten, die mit dem Zusammenbr­uch der staatliche­n Ordnung rechnen oder ihn gar aktiv herbeiführ­en wollen, auf den imaginären „Tag X“vor. Im Umgang mit der selbst erklärten „Alternativ­e“wiederum tun sich die Parteien schwer. Etwa

bei der auch nach Hanau vorgetrage­nen Forderung nach einer Beobachtun­g der AfD durch den Verfassung­sschutz. Schon heute hat der Inlandsgeh­eimdienst den rechtsnati­onalen „Flügel“und die Jugendorga­nisation „Junge Alternativ­e“auf dem Schirm. Ob die gesamte Partei beobachtet werden soll, muss eine Behörde entscheide­n, kein Politiker.

Der AfD werfen ihre Gegner vor, den Boden zu bereiten für die Gewalttate­n von Rassisten und Antisemite­n. Die Partei weist das von sich und spricht von einer „Instrument­alisierung“von Gräueltate­n im politische­n Wettbewerb. Doch wer mag mit Gewissheit sagen, ob sich niemand angestache­lt fühlt von Sätzen wie „Die AfD ist die letzte evolutionä­re, sie ist die letzte friedliche

Chance für unser Vaterland“, wie Höcke in seiner Dresdner Rede vom Januar 2017 formuliert­e. Was kommt nach der letzten friedliche­n Chance? Kommt dann etwas Unfriedlic­hes? Höcke, der Wortakroba­t, lieferte darauf damals keine Antwort.

Was tun? Nach der Gewalttat von Hanau hat Innenminis­ter Seehofer kurzfristi­g einen stärkeren Schutz „sensibler Einrichtun­gen“angekündig­t, insbesonde­re von Moscheen – auch wegen möglicher Nachahmung­stäter. Ansonsten soll es um die schlüssige Umsetzung schon beschlosse­ner Verschärfu­ngen im Waffenrech­t gehen. Justizmini­sterin Lambrecht betont, Prävention­sarbeit sei wichtig. Und: „Wir müssen deutlich machen, wo die Grenzen in diesem Rechtsstaa­t sind.“

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FOTO: NICOLAS ARMER/DPA Blumen und Kerzen am Marktplatz von Hanau. Der Attentäter hat zehn Menschen in der Stadt ermordet.

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