Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Zügig übers Filstal
Am Albaufstieg entsteht die höchste Eisenbahnbrücke Süddeutschlands – Ein Besuch auf der Baustelle zwischen Wendlingen und Ulm
- Die lange Unterhose hat sich als gute Idee erwiesen. Ebenso der zweite Pullover unter dem Parka. Vielleicht wäre noch eine Bleiweste angebracht. Einfach, um an Gewicht zu gewinnen, denn der über die Filstalbrücke pfeifende Wind ist nicht nur eisig, sondern bringt auch starke Böen mit sich. Wohl ein etwas ungeschickter Besuchstermin auf dieser Eisenbahnbaustelle am Albaufstieg. Der Gedanke an einen Absturz ist beunruhigend.
Hinter einer fragil wirkenden Absperrung geht es rund 85 Meter in die Tiefe. Hier entsteht für 53 Millionen Euro die höchste Eisenbahnbrücke Süddeutschlands, die dritthöchste in der ganzen Bundesrepublik. Dzerad Calakovic schmunzelt, als er die Bedenken hört. „Ach, der Wind ist heute noch kein richtiges Problem“, sagt der Polier, ein durchtrainierter, dick vermummter Bauveteran. „Die Böen haben keine 70 Stundenkilometer. Aufhören mussten wir kürzlich beim Sturm ‚Sabine‘ mit weit mehr als 100 Stundenkilometern.“
So mitten auf der rund 480 Meter langen Brücke stehend, mag man gar nicht an kräftigere Winde denken. Lieber verdrängen, wie ein Sturm von der Albhochfläche her das enge obere Filstal herabrauschen und auf das 2014 begonnene Projekt stoßen kann. Die Baustelle ist exponiert. Beim Blick in die Tiefe sieht die hier eh schon kleine Fils nur noch wie ein Rinnsal aus. Höhe sollten die Arbeiter schon vertragen. Höhenangst hin oder her – die Baustelle entfaltet eine gewisse Faszination. Mancher Autofahrer staunt wie ein kleines Kind, wenn er auf dem Albaufstieg der A 8 unter der im Entstehen begriffenen Brücke hindurchkurvt.
Eigentlich geht es dabei um zwei dicht nebeneinander verlaufende Talquerungen, also eine Doppelbrücke. Jede Querung wird ein Gleis aufnehmen, das jeweils aus zweiröhrigen Tunnels kommt. Die Brücke ist der spektakulärste Teil der 60 Kilometer langen Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Sie schließt an das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 an. Ist alles fertig, soll die Fahrzeit im Fernverkehr zwischen der baden-württembergischen Hauptstadt und Ulm auf rund 30 Minuten reduziert werden. Zum Vergleich: Auf der Altstrecke über die Geislinger Steige sind es 54 Minuten.
Da über die Neubaustrecke möglichst Ende 2022 bereits Züge fahren sollen, drängen die Arbeiten über dem Filstal. Teilweise wird rund um die Uhr gearbeitet. Das Projekt ist einige Monate im Verzug. Teilweise hat sich der Zeitplan als zu ambitioniert erwiesen. Zudem wurden Nachplanungen nötig. Einen sichtbaren Erfolg hat es aber nun gegeben: Während von der Ostbrücke bisher nur die vorgesehenen fünf Pfeiler stehen, hat die Westbrücke den Gegenhang erreicht. Fertig ist sie aber noch nicht. Gerade soll bei einem letzten Abschnitt weiter betoniert werden. Weshalb Polier Calakovic erleichtert ist, dass es zwar zieht wie Hechtsuppe, aber wenigstens keine Sturmböen unterwegs sind. „Vielleicht könnten dann die Kräne nicht mehr arbeiten“, erklärt er. Das Betonieren an diesem Tage müsste dann wohl abgebrochen werden. „Was eine ärgerliche Zeitverzögerung wäre“, sagt Calakovic.
Fünf solcher Gestelle ragen hoch über die Brücke hinaus in Richtung des wolkenzerrissenen Himmels. Für Kranführer hat er lobende Worte: „Einer der Leute“, erinnert sich der Polier, „hat bei Sturm besser gearbeitet als ohne.“Dies mag man nun glauben oder es als Baustellen-Tratsch unter den rund 150 Arbeitern einstufen. Jedenfalls wäre ein Gespräch mit solch einem Helden der Höhe ganz interessant, geht es einem durch den Kopf. Calakovic nickt, zeigt ermutigend nach oben: raufklettern – immer den Leitern im Gestell nach bis zur Kabine hoch. Na ja, vielleicht doch nicht. Zumal der zum Baustellenbesuch mitgefahrene Fotograf nicht schwindelfrei ist. Das Brückenplateau reicht. Der Polier nickt nochmals – dieses Mal verständnisvoll – und sagt, jetzt müsse er dringend weiter: „Der Beton wartet.“
Dieser wird im Tal von Mischern angeliefert und hochgepumpt. Bis minus zehn Grad können die Männer damit arbeiten. Ganz so kalt ist es nicht. Aber das Material fehlt. Rund 200 Meter weiter Richtung Brückensüdende flucht der nächste Polier, ebenso wie der erste mit Kleidung eingehüllt, als ginge es auf eine Polarexpedition. „Wo bleibt der Beton?“, brüllt Iftimie Ovugili in ein Funkgerät, während im Hintergrund eine Flex beim Durchtrennen von Metall aufheult. „Okay, also in einer halben Stunde“, bestätigt er die Antwort, schiebt den Schutzhelm zurecht und geht rüber, wo Arbeiter Leitungen verlegen und ihre Kollegen bei Stahlseilen irgendetwas schweißen.
Der Geruch von heißem Metall und Schweißgasen wabert unangenehm herüber. Der Wind frischt einmal mehr auf. Als Besucher kann man nun an Ovugilis Arbeitsplatz tun, was die Arbeiter selbst nicht können: nach einer leichten Kletterei über Bretter und Leitern Zuflucht im anschließenden, windgeschützten Steinbühltunnel suchen. Seine beiden Röhren sind 4847 Meter lang und bereits fertig. Es fehlen nur noch Bahninstallationen wie Gleise und Oberleitungen. Im Waldhang auf der Gegenseite Richtung Stuttgart liegt der ebenso fertige, doppelröhrige Boßlertunnel, 8806 Meter lang.
Mit bis zu 250 Stundenkilometern sollen die Züge in naher Zukunft über die Schienen rasen. „Auf der Brücke werden sie gerade mal sieben Sekunden sein“, weiß Igor Zaidman, für die Deutsche Bahn Projektleiter des Unterfangens. Er hat für die Brückenvisite sein Büro in Stuttgart verlassen und gesellt sich zum windscheuen Besuchergrüppchen im Tunnel. Zaidman ist nach Arbeiten in Katar und Südafrika 2012 zum Filstalprojekt gestoßen. Als eine der speziellen Herausforderungen beim Bauen sieht der Bauingenieur „den geringen Platz“. Gemeint ist der unmittelbare Übergang der Tunnelröhren auf die Brücke. Es mussten jeweils zwei sein. Bei Tunnels über 1000 Meter Länge sind Doppelröhren Standard, damit sich Zugpassagiere bei Unglücken durch Fluchttüren in den sicheren Nachbarbereich retten können. Die Folge ist aber, dass die beiden Gleise im Abstand von rund 30 Metern aus dem Berg kommen. „Dies hat es unmöglich gemacht, das Tragwerk der Brücke zusammenzulegen“, erklärt Zaidman. Der Bau einer einzigen breiten Talquerung für die beiden Gleise bot sich also nicht an. Ein solches Monstrum hätte inklusive Gleisbettungen weit mehr als 30 Meter breit sein müssen. „Deshalb fiel die Entscheidung, zwei Brücken zu bauen“, berichtet der Projektleiter. Jede wird inklusive Schallschutzwänden 9,18 Meter Breite haben. Weil diese Einzelbrücken sehr schlank und deshalb durch Wind oder Erschütterungen beim Zugverkehr schneller zu Verformungen neigen, mussten die Bauingenieure ein ausgefuchstes Tragwerk planen. „Das war nicht einfach Routine“, betont Zaidman stolz. Es sei schon etwas Besonderes, an diesem Projekt zu arbeiten.
Man glaubt es gerne – zumal die doppelte Brücke auch vom Aussehen her eine gewisse Eleganz verspricht: filigran, keiner jener 08/15-Kolosse, wie sie auch beim
Brückenbau immer wieder landschaftsverschandelnd in die Gegend gestellt werden.
Vielleicht trägt dies dazu bei, dass es in den anliegenden Orten Mühlhausen im Täle und Wiesensteig ruhig um die Brücke geworden ist. Bürgerinitiativen, die einst gegen das Projekt gewettert haben, sind Geschichte. „Baustellenlärm höre ich nicht. Die Brücke sieht gut aus“, sagt etwa Ludwig Beil, ein Rentner, dessen Haus gleich am Ortseingang von Wiesensteig Richtung Baustelle steht und der dort regelmäßig mit seinem Hund Gassi geht.
Zum gefälligen Aussehen der Doppelbrücke tragen auch jeweils zwei Sonderpfeiler im Zentrum bei. Sie sind Y-förmig. Weshalb diese Pfeiler deutlich längere Teile der Brücke tragen können als die wesentlich simpler gebauten vertikalen Stützen. Was bedeutet, dass direkt über dem zentralen Talgrund kein weiterer Einfachpfeiler nötig ist. Sein Bau wäre auch schwierig geworden. Dort ist der Untergrund nämlich unsicher. Eindrucksvoll wirken in diesem Zusammenhang zudem noch rund 80 Meter hohe Hilfskonstruktionen zum Abstützen der Brücke bis zum Fertigbau der Ypsilone: gewaltige rot-blaue Stahlgestelle – Riesenspielzeuge, könnte man meinen. Sind die YPfeiler der Westbrücke vollendet, werden sie auf Schienen zur Ostbrücke verschoben. Wenigstens ist es so geplant. „Wir machen das zum ersten Mal“, meint Projektleiter Zaidman.
Umsetzen dürfen dies wiederum die Leute auf der Baustelle. Meist sind es übrigens Rumänen, die in umliegenden Pensionen oder Hotels einquartiert sind – zur Freude der Gastronomen. Der hohe Ausländeranteil erklärt sich durch den harten Job. Deutsche Eisenflechter sind rar geworden. Hierzulande finden sich wohl auch bloß noch selten Leute wie Bruno Prelicz, ein weiterer Polier. „Ich bin seit Jahrzehnten ständig auf Baustellen“, erzählt der abgearbeitet wirkende Mann mit dem runden Gesicht. „Meine Familie ist deshalb zerbrochen. Aber ich habe auch gut verdient.“Ein schwacher Trost kurz vor der Rente.
Prelicz kann sich vorstellen, dass die Filstalbrücke seine letzte Baustelle ist. Der Mann will noch etwas anfügen, bekommt aber einen Funkanruf. Es geht etwas. Offenbar kommt der Beton. Prelicz zieht sich seine dicke Jacke am Hals zu, verschwindet hinter Schalbrettern und Absperrungen. Indes schickt das Wetter die nächste kalte Böe. Dem Besucher ist es möglich, weit vor Feierabend zu gehen. Die Arbeiter harren indes weiter in luftiger Höhe aus.