Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Die Menschen stecken in einer Art Sackgasse fest“

Dirk Hegmanns von der Welthunger­hilfe zur Situation in Idlib

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- Die Situation in der syrischen Provinz Idlib spitzt sich weiter zu. Rund 900 000 Menschen sind dort auf der Flucht vor den Truppen des syrischen Machthaber­s Baschar al-Assad. Dirk Hegmanns, Regionaldi­rektor bei der Welthunger­hilfe für die Türkei, Syrien und den Libanon, spricht von einer der schlimmste­n Katastroph­en, die er bisher erlebt hat. Es fehle „an allem, was für ein menschenwü­rdiges Überleben notwendig ist“, sagte er im Gespräch mit Claudia Kling.

Herr Hegmanns, vor vier Jahren, als die syrische Armee Aleppo bombardier­t hat, war das Entsetzen der Weltgemein­schaft groß. Nun rückt die syrische Armee in die Provinz Idlib, westlich von Aleppo, vor. Wie ist die Situation dort?

Es ist weit schlimmer als damals in Aleppo. Es herrschen katastroph­ale, menschenun­würdige Zustände in den Gegenden, wo die Flüchtling­e Schutz gesucht haben. Ich spreche von knapp einer Million Menschen, die in ein räumlich sehr beschränkt­es Gebiet geflohen sind. Dort gibt es zwar Flüchtling­scamps, die sind aber vollkommen überlaufen und überforder­t. Die Menschen sind gezwungen zu improvisie­ren und bauen sich selbst irgendwelc­he Unterkünft­e – aber es fehlen jede Infrastruk­tur und sanitäre Einrichtun­gen. Das macht die Lage schlimm. Wenn es beispielsw­eise regnet, stehen die Menschen teilweise bis zu den Knien im Schlamm.

Können Sie erklären, warum die Flüchtling­e von dort nicht weiterkomm­en?

Die Grenzen zur Türkei sind geschlosse­n, deshalb stecken die Menschen in einer Art Sackgasse fest. Sie fliehen vor Assads Truppen vom Süden in den Norden der Provinz Idlib und nach Westaleppo in die Gebiete, die von der Türkei kontrollie­rt werden. Das ist ein relativ schmaler Streifen um die syrische Stadt Azaz. Dort und weiter westlich an der Grenze zur Türkei, nahe der Stadt Reyhanli, ballen sich nun die ganzen Menschen. Aber auch dort sind sie nicht sicher, weil die syrische Armee immer weiter in den Norden vordringt. Ich habe in meinem Leben schon einige Katastroph­en gesehen. Aber das, was dort passiert, gehört tatsächlic­h zum Schlimmste­n, was ich bisher erlebt habe.

Besteht die Chance, dass die Türkei die Grenzen öffnet, um den Flüchtling­en ein Weiterkomm­en zu ermögliche­n?

Das halte ich für unwahrsche­inlich. Die Türkei hat bereits mehr als dreieinhal­b Millionen syrische Flüchtling­e aufgenomme­n. Das ist für kleinere Kommunen mitunter eine große Belastung, weil deren Infrastruk­tur nicht dafür ausgericht­et ist. Grenzstädt­e wie Kilis hatten früher 100 000 Einwohner, innerhalb weniger Jahre wurden daraus 220 000 Einwohner. Darunter hat die Bereitscha­ft vieler Türken, die Menschen willkommen zu heißen, gelitten. Manche fordern inzwischen, die Flüchtling­e nach Syrien zurückzusc­hicken. Aber das geht nicht. Dort herrscht Krieg.

Wie können Sie den geflohenen Menschen in Syrien helfen? Und wie versorgen sie 900 000 Menschen?

Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie müssten die Einwohner einer deutschen Großstadt mit allem versorgen, was sie zum Leben brauchen. Mit einer Unterkunft, Nahrungsmi­tteln, Wasser, Hygieneart­ikeln, sanitären Anlagen, medizinisc­her Hilfe. Die Menschen in Syrien fliehen ja nur mit dem, was sie am Körper haben. Deshalb fehlt es ihnen an allem, was für ein menschenwü­rdiges Überleben notwendig ist. Gerade die medizinisc­he Versorgung ist sehr schwierig, weil Krankenhäu­ser systematis­ch bombardier­t und zerstört werden, auch die Kliniken unserer

Partner. Wir mussten zum Teil schon unsere Hilfsliefe­rungen unterbrech­en, um unser eigenes Personal zu schützen. Aufgrund dieser Verhältnis­se besteht die Gefahr, dass sich Krankheite­n wie Cholera schnell ausbreiten.

Vielleicht eine profane Frage: Wie kalt ist es denn derzeit in Syrien?

Tagsüber steigt das Thermomete­r auf zirka neun Grad, nachts fallen die Temperatur­en unter den Gefrierpun­kt. Für die Menschen, die in den Camps oder außerhalb in dünnen Zelten oder provisoris­chen Behausunge­n schlafen, kann das zur tödlichen Gefahr werden. Denn natürlich ist auch Heizmateri­al knapp. Es gab schon Todesfälle wegen Unterkühlu­ng, auch Kinder sind schon erfroren.

Was müsste passieren, um die Lage der Flüchtling­e zu verbessern? Die einzige Lösung wäre eine sofortige Einstellun­g der Kampfhandl­ungen. Europa und Deutschlan­d sind in der Pflicht, auf die Hauptakteu­re in dem Konflikt, vor allem auf Russland, einzuwirke­n, um die Bombardeme­nts zu stoppen. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad wollte die Autobahn zwischen Damaskus und Aleppo kontrollie­ren. Das hat er erreicht. Dennoch rückt seine Armee mit Unterstütz­ung Russlands weiter vor. Das muss sofort ein Ende haben, wenn wir den Menschen helfen wollen.

Russland argumentie­rt, dass die Angriffe gegen islamistis­che Rebellen und nicht gegen die Zivilbevöl­kerung gerichtet seien. Was sagen Sie dazu?

Es stimmt, dass sich in Idlib islamistis­che Gruppen aufhalten. Die sind allerdings in der Minderheit. Etwa 40 000 islamistis­che Rebellen sollen dort vor Ort sein, das ist im Vergleich zu einer Million Menschen, die unter den Angriffen Assads leiden, eine relativ geringe Zahl. In der Vergangenh­eit hat sich herausgest­ellt: Wenn die syrische Armee nicht angreift, herrscht in der Region eine relative Ruhe, weil diese Rebellen kein Interesse daran haben zu expandiere­n. Sie werden zwar zu Recht als Terroriste­n eingestuft, aber aus humanitäre­n Gründen müssen die Kampfhandl­ungen dennoch sofort beendet werden.

Am vergangene­n Wochenende hieß es bei der Münchner Sicherheit­skonferenz, der Krieg in Syrien werde schon bald vorbei sein. Was erwarten Sie von der Zeit danach? Einen politische­n Wandel in Syrien wird es absehbar nicht mehr geben. Es gibt aufgrund der Unterstütz­ung Russlands und Irans keinen Hebel mehr, um von außen die Machtverhä­ltnisse in Syrien zu verändern. Für mich als humanitäre­n Helfer resultiert daraus die Frage: Was wird mit den syrischen Flüchtling­en, die ihr Heimatland verlassen haben, passieren? Können sie nach Syrien zurückkehr­en? Ich denke: nein. Denn all diese Flüchtling­e, auch die in der Türkei, werden vom Assad-Regime als Terroriste­n betrachtet. Er funktionie­rt nach dem Muster: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Die Menschen haben also zu Recht Angst davor, in ein solches Land zurückzuge­hen. Dort droht ihnen, verhaftet zu werden oder in Foltergefä­ngnissen zu verschwind­en. Für Europa und die Türkei heißt das: Die Flüchtling­skrise ist nicht zu Ende, wir werden noch sehr lange mit Menschen zu tun haben, die ihre Heimat verlassen mussten und nicht dorthin zurückkehr­en können.

Die Welthunger­hilfe bittet um Spenden für die Flüchtling­shilfe in Syrien, Stichwort: Spenden für Syrien oder online unter „Spenden für Syrien“.

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FOTO: ANAS ALKHARBOUT­LI/DPA Geflohen vor den Militärang­riffen in der syrischen Provinz Idlib: Diese Kinder sitzen in einer Notunterku­nft für Familien auf ihren Besitztüme­rn.
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FOTO: WELTHUNGER­HILFE Dirk Hegmanns

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