Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Karlsruhe urteilt über Sterbehilfe
Wie will ich aus dem Leben scheiden? Was ist ein würdevoller Tod? Und wie kann ich bis zum Ende selbstbestimmt bleiben? – Die Gäste im Hospiz in Spaichingen haben darauf Antworten gefunden
KARLSRUHE/MAINZ (epd/KNA) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet am heutigen Mittwoch über die Strafbarkeit von Sterbehilfe. Die Karlsruher Richter prüfen, ob das Verbot der organisierten Hilfe beim Suizid in seiner geltenden Fassung Bestand haben kann. In einer am Dienstag veröffentlichten Infratestdimap-Erhebung für das ARD-Magazin „Report Mainz“lehnten 67 Prozent der Deutschen den Strafrechtsparagrafen 217 zum Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe ab.
- Norbert L. trägt einen Schnurrbart wie ein Seebär, die schwarzen Härchen sind leicht angegraut, aber lang und von dichtem Wuchs. Dazu passt sein kräftiger Händedruck, der das Bild eines Mannes mit Haltung vermittelt. Eine Eigenschaft, die der 67-Jährige in diesen Tagen und Wochen mehr denn je braucht. Denn Norbert L. ist todkrank. Er wird sterben, vielleicht schon bald. In seinen Nasenlöchern stecken Schläuche, die ihm Sauerstoff zuführen, manchmal atmet er trotzdem schwer oder verschluckt die Worte. Und während des Gesprächs kommen ihm immer wieder die Tränen. Dann sammelt er sich jedoch und betont Dinge, die ihm wichtig sind. „Es ist meine Krankheit“, sagt Norbert L.: „Ich bestimme.“Und so hat er den Ort und die Umstände bestimmt, um dem Tod zu begegnen; im Hospiz am Dreifaltigkeitsberg in Spaichingen.
Die Selbstbestimmtheit beim Sterben. Sie gehört zu den kontroversen Themen dieser Zeit, sie beschäftigt Gesellschaft, Politik und nicht zuletzt die Gerichte. So urteilte das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2017, dass der Staat unheilbar kranken Patienten einen Anspruch auf Medikamente zur schmerzlosen Selbsttötung in Extremfällen nicht verwehren dürfe. Ob dieses Urteil auch in der Praxis zur Anwendung kommt, entscheidet nun das Bundesverfassungsgericht.
Sechs schwerkranke Patienten hatten Klage eingereicht gegen Paragraf 217 Strafgesetzbuch, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung verbietet. Mit geschäftsmäßig sind solche Fälle gemeint, in denen jemand, etwa ein Arzt oder ein Verein, einer anderen Person die Gelegenheit zum Suizid bietet, ihr etwa ein Medikament zur Verfügung stellt, das direkt zum Tod führt. Die Kläger sehen in dem Verbot einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, zu dem auch ein selbstbestimmtes Sterben gehöre. Die Befürworter des Paragrafen 217 bezweifeln, ob ein Sterbewilliger stets eine autonome Entscheidung treffen kann. Und sie fürchten, dass eine geschäftsmäßige Sterbehilfe ein suizidfreundliches Klima schaffe, in dem es zu einer Zunahme an Selbsttötungen kommt. Wie auch immer man zu diesem komplexen Thema steht, ganz abwegig sind die Befürchtungen offenbar nicht.
Für Norbert L. schien der Tod noch weit weg, als der Chirurgiemechaniker in Rente ging. „Jetzt kannst du was unternehmen, jetzt hört die Arbeit auf“, habe er damals gedacht. „Und dann bekommst du so ein Ding vor den Kopf.“Das Ding war eine Heckenschere, die ihm an die Stirn flog, als es ihn bei der Gartenarbeit plötzlich überkam. Körper und Kreislauf versagten, er fiel rückwärts um. Im
Krankenhaus nähten sie die Schnittwunde am Kopf, ansonsten lautete die Diagnose: „Bloß Prellungen.“Denkste.
Eines Tages verließen ihn die Kräfte völlig, seiner Frau musste er gestehen: „Ich schaffe es nicht mehr raus aus dem Bett.“Es folgte eine Odyssee durch Praxen und Kliniken, bis endlich feststand: Krebs. Tumore an Lunge, Rippen, Leber. Chemound Immuntherapie schlugen zunächst an, dann entdeckten die Ärzte jedoch einen weiteren Tumor. Und verordneten eine weitere Chemiekeule.
„Die hat mich total zusammengeschlagen.“Irgendwann schwoll ihm die Zunge an, die Speiseröhre machte zu, die Luftröhre auch. „Ich dachte, ich ersticke“, sagt der 67Jährige und muss erneut mit den Tränen kämpfen.
Damals hat er gewusst, das war’s wohl. Und trotzdem musste es weitergehen, auf den letzten Metern, irgendwie, irgendwo. „An eine Maschine im Krankenhaus wollte ich auf keinen Fall.“Und der Ehefrau, dem Sohn und seiner Familie die Pflege aufbürden? Niemals. Deshalb ist Norbert L. seit nun sieben Wochen im Hospiz in Spaichingen und könnte nicht zufriedener sein in dieser schwierigen, bisweilen verzweifelten Lage. „Ich bin hier aufgehoben“, sagt er. „Und dank meinen Engeln geht’s mir soweit gut.“
Zu seinen „Engeln“zählt auch Petra Sommer, die 52-jährige Pflegerin gehört zum Leitungsteam des Hospizes und weiß um die Sorgen Sterbender, der Verwandtschaft mit Krankheit und Tod zur Last zu fallen. „Wir müssen erst wieder lernen, Hilfe anzunehmen“, sagt Sommer. Lernen, was einst selbstverständlich war, als für die Menschen das Leben im Familienverbund endete, als Kinder und Enkelkinder sich um Todkranke kümmerten. „Das ist irgendwann komplett aus der Gesellschaft gefallen“, sagt Sommer. Heute leben die Mitglieder einer Familie nicht selten verstreut über das Land, ja den Globus, und die allermeisten Menschen sterben nicht im vertrauten Kreis, sondern in Krankenhäusern und Pflegeheimen, schlimmstenfalls in Anonymität. Bleiben muss das nicht so – und wird es womöglich auch nicht. Ist der Tod doch kein Tabu mehr, wie er es lange war.
„Wir holen ihn langsam zurück, begreifen, dass das Sterben zum Leben gehört“, sagt Sommer. Die Debatte um die Sterbehilfe, so schmerzhaft und emotional sie sein kann, gilt als Beleg für den offeneren Umgang mit dem Ende. Und auch das Hospiz am Dreifaltigkeitsberg in Spaichingen steht stellvertretend für eine Annäherung an das Ableben. Eröffnet im Oktober 2019 liegt der Flachbau symbolträchtig in einem dicht besiedelten Wohngebiet. Die Einfamilienhäuser grenzen so nah an das Hospiz, dass man sich gegenseitig in die Fenster schauen kann. Manchmal kommen Nachbarn vorbei, bringen Blumen. Oder Spaziergänger bleiben vor dem Gebäude stehen und halten inne, wenn sie im Stilleraum die große Kerze flackern sehen, die nur brennt, wenn ein Gast verstorben ist. Hinter der Anteilnahme steckt auch eine Wertschätzung für die Arbeit und den Umgang mit den Todkranken.
„Es ist hart“, sagt Norbert L. und drückt die losen Sauerstoffschläuche etwas fester in die Nase. „Aber das wissen wir. Die Leute sterben.“Dann beklagt er, dass er sich schon beim Toilettengang helfen lassen müsse wie „ein kleines Kind“, sich nicht von A nach B bewegen könne wie zuvor in seinem ganzen Leben. Dass ihn die Gefühle manchmal übermannen, darunter auch solche, die weh tun. „Und was macht der oben?“, fragt er und zeigt zum Himmel. „Der kann mir nicht helfen. Aber er kann mir durch meine Engel helfen“, dabei schaut Norbert L. zu Petra Sommer.
Die Hospizmitarbeiter geben den Nöten ihrer Gäste Raum. Den Schuldgefühlen, der Reue, der Angst vor Kontrollverlust, vor Schmerz und Leid, und natürlich jener vor dem Tod. Am Ende kommt vieles geballt, das gilt es aufzufangen. „Bei uns können die Menschen zur Ruhe kommen“, sagt Sommer. „Wir haben Zeit.“
Zeit, um der Krankheit ihre Spitzen zu nehmen, sei es mit Aromatherapie und Palliativmedizin, oder über Zuwendung und Gespräche. Und auch Zeit, sich den dunkelsten Gedanken zu stellen. „Der Suizid ist bei uns immer wieder präsent, teilweise sehr stark“, sagt Sommer, die aber festgestellt hat: „Die wenigsten Menschen sagen, sie haben Angst vor dem Tod. Sie haben Angst vor dem Weg.“Und wollen ihn daher nicht gehen. Verurteilen will sie das Verlangen, Einfluss auf das Lebensende zu nehmen, nicht, macht aber ein anderes Angebot: „Wir können alles tun, damit die Menschen nicht nur in Frieden sterben, sondern bis zuletzt auch selbstbestimmt leben können.“
Von dieser Idee ist auch Werner Schneider von der Universität Augsburg überzeugt. „Wir haben schon eine Vorstellung vom guten Sterben“, sagt der Professor für Soziologie dem Deutschlandfunk. „Und dieses Sterben ist tatsächlich würdevoll und selbstbestimmt.“Würdevoll, so Schneider, weil möglichst schmerzfrei, den Bedürfnissen, den Wünschen des Sterbenden folgend. „Gut versorgt und wenn es irgendwie geht, auch betreut, sozial betreut und in soziale Beziehungskontexte eingebettet“, so Schneider. „Das ist die Idealvorstellung.“
Norbert L. weiß bei allen Emotionen, die ihn manchmal durchschütteln, dass er dieser Idealvorstellung ganz nah ist. „Besser als hier kann es mir nicht gehen“, sagt der 67-Jährige und blickt auf die Fotos, die auf seiner Kommode stehen. Das eine Bild zeigt ihn und seinen erwachsenen Sohn in der Allianz Arena in München, im Hintergrund ist die Choreografie der Fankurve zu sehen mit dem blau-weiß-roten Bayern-Emblem. „Fünf zu null haben wir damals die Wolfsburger geschlagen.“Sein Sohn kommt oft nach der Arbeit vorbei, die Frau jeden Tag. Und auch die beiden Enkelkinder waren schon da, zwei Jungs, ein und drei Jahre alt, haben an den Schläuchen gezupft und den Opa gedrückt. Die Buben lachen ihn auf dem anderen Foto an. „Ja, die Menschen ...“, sagt Norbert L. und lächelt zurück.
„Die wenigsten Menschen sagen, sie haben Angst vor dem Tod. Sie haben Angst vor dem Weg.“
Petra Sommer, Pflegerin im Hospiz in Spaichingen