Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Neue Corona-Fälle in Baden-Württemberg
Drei weitere Menschen mit Virus infiziert – Bundesregierung bildet Krisenstab
GÖPPINGEN/TÜBINGEN/BERLIN (mö/dpa) - In Baden-Württemberg gibt es drei weitere mit dem Coronavirus infizierte Patienten. Am Abend bestätigte das Gesundheitsministerium in Stuttgart den Fall eines 32jährigen Mannes aus dem Landkreis Rottweil. Seine Ehefrau und sein Kind sind laut Ministerium negativ getestet worden. Zuvor hatte die Universitätsklinik Tübingen zwei mit dem Coronavirus infizierte Patienten gemeldet. Damit gibt es in
Baden-Württemberg vier bestätigte Fälle. Einer der beiden Patienten in Tübingen ist Oberarzt in der Pathologie des Uniklinikums. Der 60-Jährige soll seit dem Wochenende auch Kontakt zu anderen Medizinern gehabt haben – diese Kontakte seien erfasst, teilte das Klinikum mit. Es seien ein Dutzend Oberärzte getestet und „aus der Krankenversorgung rausgenommen worden“.
Auch die 24 Jahre alte Tochter des Mannes ist mit dem Virus infiziert und wird isoliert behandelt. Sie hatte den ersten baden-württembergischen Patienten, einen 25-Jährigen aus dem Kreis Göppingen, nach Mailand begleitet.
Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) sagte in Göppingen, die Krankenhäuser seien vorbereitet, es sei noch alles unter Kontrolle. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erwartet indes eine deutlich stärkere Verbreitung des Virus. „Wir befinden uns am Beginn einer CoronaEpidemie in Deutschland“, sagte Spahn. „Die Infektionsketten sind teilweise – und das ist eine neue Qualität – nicht nachzuvollziehen.“Vor dem Hintergrund sei es fraglich, ob die bisherige Strategie zum Eingrenzen des Virus weiter aufgehe. Angesichts der Entwicklung bildet die Bundesregierung einen Krisenstab. Spahn und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wollen am Donnerstag informieren.
STUTTGART/GÖPPINGEN - Noch ist Gesundheits- und Sozialminister Manfred Lucha offensichtlich tiefenentspannt, noch ahnt der GrünenPolitiker nichts von der unheilvollen Dynamik des Tages, an dessen Abend sieben am Coronavirus erkrankte Patienten Deutschland beunruhigen: Er begrüßt an diesem Aschermittwoch um Punkt 13 Uhr die Journalisten, die mehr über den ersten Coronavirus-Patienten in Baden-Württemberg erfahren wollen, zur Pressekonferenz. Seine Botschaft: „Es gibt nach wie vor kein kursierendes Virus bei uns.“Alles unter Kontrolle, „kein Grund zur Unruhe“, der Weg des Erregers im Südwesten könne nachgezeichnet werden. Bei dem 25-Jährigen aus dem Landkreis Göppingen, der seit Dienstagabend auf der Isolierstation des Göppinger Klinikums liegt, handele es sich um einen Einzelfall, verkündet der Minister. Kliniken, Ärzte und Gesundheitsbehörden seien gut vorbereitet. Lucha hat eigens seinen Urlaub in der Schweiz unterbrochen und ist in die Landeshauptstadt zurückgekehrt: Wie es aussieht, wird er dort in den nächsten Tagen dringend an der Spitze seines Ministeriums gebraucht. Denn noch während der Pressekonferenz werden besorgniserregende Details zu den beiden bekannten Fällen aus Nordrhein-Westfalen gemeldet, am Nachmittag und am frühen Abend bestätigt sich der Verdacht auf vier weitere Corona-Infektionen: zwei in Tübingen, eine in Rottweil und eine in RheinlandPfalz. Und damit auf weitere, bisher unbekannte Infektionsketten.
Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen: Der Zustand des am Dienstagabend bekannt gewordenen Coronavirus-Patienten am Niederrhein ist nach Angaben des Sprechers des NRW-Gesundheitsministeriums unverändert kritisch. Bei der Ehefrau des Mannes, die ebenfalls mit Symptomen einer Viruserkrankung stationär behandelt wurde, handele es sich weiterhin um einen Verdachtsfall – ein Ergebnis liege noch nicht vor. Am Montag war der Mann mit Symptomen einer schweren Lungenentzündung in einem Krankenhaus in Erkelenz im Kreis Heinsberg bei Aachen aufgenommen und auf der Intensivstation isoliert worden. In der Nacht zu Mittwoch wurde er ins Uniklinikum Düsseldorf gebracht.
Dagegen geht es dem Patienten in Baden-Württemberg am Mittwoch gut. Als vorbildlich bezeichnet Lucha das Verhalten des Mannes, der in Baden-Württemberg als „Index-Patient“bezeichnet wird: Der 25-Jährige machte von Montag bis Freitag vergangener Woche zusammen mit seiner 24-jährigen Lebensgefährtin in Mailand Urlaub, das Paar besuchte dort auch eine italienische Freundin. In Norditalien gibt es derzeit besonders viele infizierte Kranke. Nach der Rückkehr bekam der Mann am Sonntag Husten, am Montagmorgen litt er unter Fieber. Am Dienstagmorgen
wandte er sich ans Göppinger Gesundheitsamt, das eine Abstrichuntersuchung anordnete. Das Ergebnis: „positiv“, wie Stefan Brockmann, Leiter des Kompetenzzentrums Gesundheitsschutz am Landesgesundheitsamt (LGA), sagt. Noch am Dienstag sei ein Abstrich im LGA untersucht worden, der Patient sei in die Klinik Am Eichert in Göppingen gekommen und dort auf der Isolierstation aufgenommen worden. Der Zustand des Mannes ist bislang stabil. „Es geht ihm gut, er ist in der Klinik und unter Beobachtung“, sagt ein Sprecher des Ministeriums am Mittwochmittag. Während der Pressekonferenz wird aber auch klar: Der Mann hat seit seiner Rückkehr aus Italien mit zwölf weiteren Personen plus seiner Lebensgefährtin Kontakt gehabt. Und: Er war am Samstagabend in Neu-Ulm im dortigen Cineplex-Kino, hat sich den Thriller „Bad Boys for Life“angesehen.
Heinz Pöhler, der Leiter des Gesundheitsamts in Göppingen, erklärt, dass inzwischen die Lebensgefährtin des 25-Jährigen sowie die Freundin in Italien, die die beiden besucht hatten, getestet wurden. Die übrigen Kontaktpersonen sollen nicht untersucht werden, solange sie keine Symptome zeigen. Sie müssen aber vorerst daheim bleiben.
Was Pöhler zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Die Lebensgefährtin hat sich und ihren Vater mit dem Virus angesteckt. Beide werden im Universitätsklinikum Tübingen behandelt. Der Mann habe „so gut wie keine Symptome“, seine infizierte
Tochter verspüre lediglich leichte Halsschmerzen, heißt es später.
Aber: Der Vater ist als Oberarzt in der Pathologie des Universitätsklinikums beschäftigt. Der 60-Jährige soll seit dem Wochenende auch Kontakt zu anderen Medizinern gehabt und an einem Treffen von Oberärzten teilgenommen haben. Es seien ein Dutzend Oberärzte getestet und „aus der Krankenversorgung rausgenommen worden“, teilte das Klinikum mit. Sie seien unter Beobachtung.
Während die Tübinger Oberärzte und die 13 Kontaktpersonen des Göppinger „Index-Patienten“den Behörden namentlich bekannt sind, wird der Kinobesuch des Mannes am Samstagabend in Neu-Ulm als durchaus problematisch bewertet. Laut Landratsamt Neu-Ulm saßen insgesamt 138 Menschen im Saal. „Die Möglichkeit einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus besteht für Personen, die mindestens 15 Minuten in Gesicht-zu-Gesicht-Kontakt mit dem Erkrankten waren“, sagt ein Sprecher. Aber: „Der Personenkreis, auf den dies zutrifft, lässt sich im Nachhinein nicht näher abgrenzen.“Kinobesucher, die in den kommenden zehn Tagen Krankheitssymptome wie Fieber, Husten oder Schnupfen bekämen, sollten sofort die Kontakte zu anderen Menschen minimieren und ihren Hausarzt sowie das örtliche Gesundheitsamt anrufen, betont das Landratsamt.
Szenenwechsel: Während in der Göppinger Klinik Am Eichert der
Krankenhausalltag reibungslos weitergeht, wie Geschäftsführer Ingo Hüttner betont, richten sich Drogerien und Apotheken in der Stauferstadt auf den Ansturm ihrer Kunden ein. „Es war totales Chaos heute morgen“, erzählt Sabine Luik aus der Storchen-Apotheke in der Göppinger Innenstadt. Innerhalb einer Stunde habe sie 500 Mundschutzmasken verkauft. „Hauptsächlich Chinesen, die sind sehr gut organisiert“, sagt die Apothekerin, „die zeigen mir Fotos auf dem Handy von den Produkten, die sie haben wollen.“Aber nun, da der Fall auch in Göppingen aufgetreten sei, kämen auch mehr Deutsche und fragten nach Handdesinfektion und Schutzmasken.
Am frühen Mittwochabend meldet das Ministerium dann den vierten Fall in Baden-Württemberg: Ein 32-jähriger Mann aus dem Landkreis Rottweil, der am vergangenen Sonntag mit seiner Familie aus dem Risikogebiet in Italien (Provinz Lodi, Codogno) eingereist war, hatte sich aufgrund grippeähnlicher Symptome beim örtlichen Gesundheitsamt gemeldet. Der Verdacht bestätigte sich: „Der Patient wird nun in einem Krankenhaus betreut und isoliert von den anderen Patientinnen und Patienten behandelt“, sagt eine Sprecherin. Seine mitgereiste Ehefrau und sein Kind seien negativ getestet worden: „Sie bleiben in häuslicher Absonderung.“Fast gleichzeitig meldet die Bundeswehr, dass bei einem Soldaten das Virus festgestellt worden sei. Der 41-Jährige werde im Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz in Rheinland-Pfalz behandelt.
Zurück nach Stuttgart: Dort sieht sich das Gesundheitsministerium gut gerüstet: „Baden-Württemberg hat sich schon früh auf diesen Fall eingestellt. Alle beteiligten Stellen arbeiten eng und intensiv zusammen“, sagt Minister Lucha. Alle Krankenhäuser im Land seien in der Lage, Erkrankte aufzunehmen und zu isolieren. Zur Prophylaxe gehört zum Beispiel, dass bei einem nicht erhärteten Verdacht auf Influenza automatisch auch Laboruntersuchungen auf das Coronavirus vorgenommen werden. Labore beim Landesgesundheitsamt in Stuttgart und in den Unikliniken Heidelberg und Freiburg könnten die Erkrankung innerhalb von fünf Stunden feststellen.
Freilich trifft das Virus auf eine „naive Bevölkerung“, wie Infektionsschutz-Expertin Isolde Piechotowski formuliert, das aus China stammende Virus könne sich im Vergleich zur Influenza weitgehend ungehindert ausbreiten. „Bei der Influenza gibt es eine Impfquote, wenngleich sie noch zu gering ist“, sagt die Mitarbeiterin des Gesundheitsministeriums. Auch sei ein Teil der Menschen immun. „Es kann wirklich jeden treffen und es gibt keine Abwehrmechanismen.“
Was also tun? In den kommenden Wochen sei es ratsam, „nicht gerade dahin gehen, wo die Lage noch unübersichtlich ist“, rät der Minister. Zu einer freien Gesellschaft gehörten auch das Umplanen und der Verzicht.
„Baden-Württemberg hat sich schon früh auf diesen Fall eingestellt.“
Manfred Lucha, Landesgesundheitsminister