Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Hier kriegen sie uns nicht weg“
Sozialer Brennpunkt: Am Ravensburger Bahnhof treffen sich unterschiedliche Szenen
RAVENSBURG (rut) - Sie sollen schlägern, pöbeln und Passanten belästigen. So heißt es immer wieder über bestimmte Gruppen, die sich um den Ravensburger Bahnhof herum aufhalten. Manche Passanten fühlen sich von diesen Menschen belästigt – inzwischen gilt das Bahnhofsareal als sozialer Brennpunkt der Stadt. Dort überschneiden sich „unterschiedliche Szenen“, weiß der Ravensburger Streetworker Bernhard Pesch – wobei er sich momentan vor allem um die gut zwei Dutzend, teilweise obdachlosen Alkoholiker kümmert, die täglich am Bahnhof zusammenkommen.
Einer davon ist Will (35). Er war mal Musiker, „hat einen Haufen Geld verdient“, ist abgestürzt und schlief „unter der Brücke im Schnee“. Nach einem Entzug in der Weißenau rappelte er sich wieder hoch, bekam einen Job und ergatterte über Kleinanzeigen eine Wohnung für sich und seine Frau in Kißlegg. Momentan hängt Will wieder durch. Er weiß, dass er zu viel trinkt. Und vielleicht auch zu oft zum Ravensburger Bahnhof kommt, um dort „seine Leute“zu treffen. Die Alkoholiker-Szene kennt er gut. Will glaubt: „Die meisten Leute hier am Bahnhof werden falsch eingestuft – viele haben ein hartes Schicksal.“
Auch Didouche Yazid (42), der nach einem Arbeitsunfall bei seiner Mutter wohnt, „bis ich mich wieder gefestigt habe“, wie er sagt, bricht eine Lanze für seine Kumpels: „Diese Leute sind auch Menschen.“Menschen, die überall weggejagt würden. Dabei sei der Bahnhof für manche fast die einzige Möglichkeit, sich mal irgendwo aufzuwärmen.
Generell ist Yazid der Meinung, man könne nicht alle, die sich tagsüber zwischen AOK und Bahnhofsgebäude niederlassen, „über einen Kamm scheren“. Für das negative Image der Gruppe seien allenfalls Einzelne verantwortlich.
Mike (36), sieht das ebenso. Passanten würden zumindest von der Truppe, die tagsüber dem Alkohol zuspricht, nicht belästigt: „Das hat keine Mordsausmaße.“Mike schaut nur ab und zu am Bahnhof vorbei, trinkt nicht, wie er sagt, spricht eher leise. Er beteuert, niemandem auf der Tasche zu liegen.
Dass er momentan mal in der Notübernachtung im Württemberger Hof, mal in einem Banken-Vorraum, einer Tiefgarage oder auch mal draußen nächtigt, sei „blöd gelaufen“. Durch persönliche Umstände sei er 2019 in diese Lage gekommen, berichtet der gelernte Raumausstatter und studierte Mediendesigner, der wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz auch schon im Gefängnis gesessen hat. „Ich bin kein Gewalttäter“, betont Mike. Robbi (36) wiederum ist schon seit frühester Kindheit ein Kind der Straße und saß lange Jahre in der JVA Dresden ein, ehe er in Ravensburg gelandet ist. Er beobachtet zwar, dass die Bahnhofsgegend „der Drogenumschlagplatz Nummer 1“sei, versichert aber, dass „seine Leute“nur Bier trinken. Schnaps sei tabu. Andere Gruppen „interessieren uns nicht, aber wegen denen haben wir Ärger mit der Polizei“, ärgert sich Robbi. Er räumt zwar ein, dass schon mal die eine oder andere Flasche zertrümmert werde. In der Regel „trinken wir hier aber einfach nur und haben unsere Party“. Nachdem man das nicht mehr auf dem Marienplatz und auch nicht mehr im Hirschgraben dürfe, sei man nun an den Bahnhof gewandert.
Robbi, Mike, Didouche und Will gehören zu den 60 bis 100 Menschen, mit denen Streetworker Pesch im
Rahmen seiner „aufsuchenden Sozialarbeit“am Bahnhof immer mal wieder zu tun hat. Alles in allem hatte der beim Jugendhilfeverein Arkade angestellte Streetworker seit August 2018 Kontakt zu rund 300 Menschen – waren es anfangs vor allem Flüchtlinge, sind es inzwischen mehr Drogen- und Alkoholabhängige.
Eine eigene Wohnung wäre laut Pesch die Voraussetzung, um zur Ruhe kommen und dann gegebenenfalls gegen den übermäßigen Alkoholoder Drogenkonsum angehen zu können. Häufig sei es jedoch ein Teufelskreis: Wer keine Arbeit hat, bekommt keine Wohnung und umgekehrt. Dennoch tut Pesch, was er kann – zumindest macht er „ein bedingungsloses Beziehungsangebot“, wie er es ausdrückt. Das heißt: Er hört den Menschen zu, nimmt sie ernst, hält ihnen den Spiegel vor – und versucht, irgendwie ihre Ressourcen zu aktivieren. Immer nach dem Motto: „Wir arbeiten nicht mit den Problemen, die die Leute machen, sondern mit denen, die sie haben.“Oft erlebt er, dass ein Großteil seiner Klientel unter „unglaublicher innerer Not“leidet – der sie dann mit Alkohol oder Drogen zumindest auf Zeit zu entfliehen versuchen. Deshalb laufen seine Hilfsansätze immer wieder auch ins Leere.
Die Tatsache, dass die Polizei im vergangenen Jahr so häufig in der Ravensburger Innenstadt zugange war, habe nicht nur dazu geführt, dass die verschiedenen Szenen sich zunächst über die halbe Stadt verteilt hätten und sich nun am Bahnhof konzentrieren. Nicht zuletzt dort, weil es im Bahnhofsgebäude im Winter auch die Möglichkeit gibt, sich aufzuwärmen.