Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Als das Licht anging und die Bahn rollte
Brochenzells Schussenkraftwerk spielte gewichtige Rolle bei Entwicklung von Schienenverkehr und Stromnetz
Von Anja Reichert
GBROCHENZELL - Im Dezember 1895 ist der Betrieb der elektrischen Bahn Meckenbeuren-Tettnang feierlich eröffnet worden. Hinter der Betriebseröffnung vor 125 Jahren liegt eine eindrucksvolle Entwicklung des Schienenverkehrs und des öffentlichen Stromnetzes von Tettnang und Meckenbeuren. Einem kleinen Kraftwerk an der Schussen kommt dabei eine bedeutende Rolle zu.
Das „Bahnbuch. 100 Jahre Strom und Zugverbindung Tettnang - Meckenbeuren“, das der Tettnanger Förderkreis Heimatkunde mit maßgeblicher Unterstützung von Angelika Barth, Karl-Hermann Weidemann und Peter Heidtmann 1995 herausgegeben hat, hat diesen Teil der Lokalgeschichte ausgearbeitet. Heute, 25 Jahre später, jährt sich die Herausgabe des Buches und damit auch die Eröffnung der Verbindung Meckenbeuren-Tettnang. Grund genug, einen Blick in das Buch und die Lokalgeschichte zu werfen.
„Am 8. November 1847 war die Strecke Friedrichshafen - Ravensburg fertig. Im Mai 1849 lagen die Schienen schon bis Biberach; ein Jahr später erreichten sie bereits Ulm. Gleichzeitig baute man von Stuttgart nach Norden wie nach Süden. Am 29. Juni 1850 war die rund 250 Kilometer lange Strecke zwischen Heilbronn und Friedrichshafen durchgehend befahrbar“, heißt es im Buch. Rund 40 Jahre später, es ist 1891: Während Meckenbeuren schon mehr als vier Jahrzehnte über eine Haltestation verfügt und an das übergeordnete Streckennetz angeschlossen ist, spukt in Tettnang noch immer die Idee einer Bahnanbindung. Bereits mehrmals wurde ein Antrag negativ beschieden.
Ein anderes Thema ist die Frage der Elektrizitätsversorgung vor allem im Hinblick auf die Argen als Stromlieferant. „Die Argen als Stromlieferant wurde zudem von Münchener Ingenieuren de la Rosée und Helmut Huber angesprochen, die gerade in diesem Jahr in allen größeren Städten Südoberschwabens über ein entsprechendes Projekt (zwischen Gießenbrücke und Pflegelberg) der Züricher Maschinenfabrik Oerlikon informierten“, heißt es im Bahnbuch. Stadtoberhaupt Max Munding wohnte damals mehrere Male solchen Vorträgen bei und lud de la Rosee nach Tettnang. Wieder referierte jener über eine „kostengünstige Nutzung der Elektrizität sowohl für Maschinenbetrieb, als auch Beleuchtung. Im Vordergrund stand diesmal allerdings der Vergleich der Betriebskosten für eine mögliche Eisenbahn zwischen Meckenbeuren und Tettnang.“Die Versammlung habe Signalwirkung gehabt: Gemeinderat und Bürgerausschuss beschlossen, „den Bau der elektrischen Eisenbahn auf die Schultern der Stadt zu nehmen.“
Wer wann auf die Idee kam, eine Bahn zwischen Tettnang und Meckenbeuren elektrisch zu betreiben, sei aus Akten oder Urkunden nicht herauszulesen gewesen, heißt es im Bahnbuch. Es habe die Bereitschaft der Maschinenfabrik Oerlikon gegeben, aus dem Argenprojekt künftig die Bahn zu versorgen und auch für elektrische Nutzungen in der Stadt und in den Betrieben zusätzliche 400 PS Strom zu reservieren. Zwar sei eine Aktiengesellschaft „Elektrizitätswerk der Argen“gegründet worden, doch das Argenprojekt entwickelte sich nicht weiter. Die Tettnanger wurden indes anderweitig aktiv und kauften 1892 die Brochenzeller Mühle – die Mahlmühle von Markus Bosch, in der eine wassergetriebene Turbine lief, die den eigenen Betrieb sowie benachbarte Häuser mit Strom versorgte. „Beweggrund dürfte neben dem Profitdenken zumindest der „zivilen“Genossenschafter auch die Überlegung Mundings gewesen sein: Wenn nicht gerade eine Eisenbahn, dann wenigstens Strom in Eigenregie.
Der Kauf war ein „Volltreffer“: Zwei Jahre später war die LAG, die Lokalbahn Aktiengesellschaft, interessiert, kaufte die Mühle und ging
Bahnstrecke und Stromversorgung an. Der Vertragsabschluss war 1894, 1895 wurde gebaut: Im August waren Erdarbeiten abgeschlossen, die Gleise erreichten Kratzerach, und parallel wurden elektrische Leitungen in Tettnang verlegt. Von dem Schussenwehr bei Brochenzell wurde Wasser zu den Turbinen geleitet, mit dem das Elektrizitätswerk betrieben wurde und das Strom für Meckenbeuren und Tettnang lieferte. Auch die Bahn wurde damit betrieben.
„Ein erster Probebetrieb der Anlage in Brochenzell mit eingeschalteter Strombeleuchtung in Tettnang erfolgte am 27. November.“Am 3. Dezember wurde die Bahnstrecke offiziell eingeweiht, und in Tettnang gingen die Lichter an, während ein erster öffentlicher Stromanschluss in Meckenbeuren 1896 erfolgte.
In den Folgejahren „ratterte das „Bähnle“von Erfolgsbilanz zu Erfolgsbilanz, die Stromgewinnung wurde optimiert, das Stromnetz erweitert, und um Überflutungen Einhalt
zu bieten, erfolgte 1899 die Schussenkorrektur von Brochenzell bis Hechelfurt. Der Stromverbrauch stieg, die LAG reagierte unter anderem mit einem Paket der Neuerungen, führte Stromzähler und ein neues Tarifsystem ein.
In der Zwischenzeit avanciert der 1909 gegründete Bezirksverband Oberschwäbischer Elektrizitätswerke (OEW) zu einem wachsenden Unternehmen, das „vor allem in Ulm eine große Dampfturbinenanlage errichtete“und besonders das Wasser der Iller als billigen Generatorenantreiber nutzte. 1921 war das Tettnanger Versorgungsgebiet von der OEW nahezu eingekreist. Um 1925 „beerdigte“die LAG ihr „Strom-Engagement“in Tettnang, sie verlor ihre Eigenständigkeit, verhandelt mit der OEW. Kurz vor Weihnachten 1925 fuhr das Bähnle mit OEW-Strom. 1926 übernahm sie schließlich die gesamte Stromversorgung. „Die OEW stellte daraufhin das Brochenzeller Kraftwerk auf automatischen Betrieb
um, legte 1928 die dieselbetriebene Reserveturbine still und gab 1934 die Stromproduktion an der Schussen ganz auf.“Vom Schussenkraftwerk ist nichts mehr zu sehen, das Wehr, das zudem als Schussensteg eine verbindende Funktion hatte, wurde im Zuge der Schussenregulierung 1934 abgerissen.
Auch auf der Schiene lief es nicht mehr rund: Der „Fortschritt des Kraftwagenverkehrs“bedeutete für die LAG zunehmende Konkurrenz. Im Bahnbuch heißt es: „Hatte sie (LAG) schon früher das einst lukrative Geschäft mit dem Strom eingebüßt, drohten jetzt auch beim Personentransport Einschnitte.“Im August 1938 hörte die LAG schließlich auf zu existieren. Das Reich hatte die Verstaatlichung der Gesellschaft angeordnet, die Lokalbahn wird von der Reichsbahn übernommen. Das Ende: 1976 wurde der Personentransport eingestellt, 1995 rollte der letzte Güterwagen auf dem Gleis zwischen Tettnang und Meckenbeuren.