Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Erfahrungen der Schwabenkinder wirken bis heute“
Der Wolfegger Autor Hubert Romer über vererbte Traumata, seinen neuen Krimi und eine schwierige Recherche
KREIS RAVENSBURG - Ein neuer regionaler Krimi greift das Schicksal der Schwabenkinder in Oberschwaben auf. Zwei Jahre lang hat der Wolfegger Journalist und Historiker Hubert Romer zu den Hintergründen für sein Buch „Die Rache der Schwabenkinder“recherchiert, das er unter seinem Pseudonym Paul Steinbeck veröffentlicht hat. Dabei geht es um die Nachfahren der Schwabenkinder, die sich an den Nachfahren ihrer Peiniger im Schwabenland rächen. Auf den Dörfern um Ravensburg kommt es zu Plünderungen, Attacken und Morden. Im Interview mit SZ-Redakteur Philipp Richter erzählt Hubert Romer von den wahren Hintergründen dieser fiktiven Geschichte. Als Schwabenkinder werden Kinder aus dem Alpenraum bezeichnet, die über den Sommer zur Arbeit nach Oberschwaben kamen, um so ihre Familien zu unterstützen. Über 400 Jahre nahmen jedes Jahr 6000 Kinder den beschwerlichen Weg auf sich.
Wie viel Realität steckt denn in Ihrem Buch?
Die Zitate und Geschichten in diesem Buch sind historisch recherchiert. Ich bin ja Historiker und habe dafür Dokumente ausgewertet. Für die Geschichte habe ich die Namen ausgetauscht und die Originalschriften ein Stück weit fusioniert. Die Inhalte sind aber authentisch. Zum Beispiel gibt es die Geschichte eines jungen Menschen, der in Bodnegg zu Tode gekommen ist und dessen Spur sich verloren hat, wirklich. Auch die Geschichte mit dem 14-jährigen Mädchen, das schwanger wurde, ist wahr. Damals wurden nämlich einige Mädchen von Bauern missbraucht und geschwängert. All das habe ich schriftstellerisch aufgearbeitet.
Auf der Metaebene geht es in Ihrem Roman um vererbte Traumata über Generationen hinweg, so wie es ja auch in Bezug auf Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall ist. Was weiß man in diesem Zusammenhang von den Schwabenkindern?
Das, was ich geschrieben habe, basiert auf den neuesten Forschungsergebnissen zum Thema vererbte Traumata. Es ist wirklich schade, dass in puncto Trauma und Schwabenkinder nicht viel untersucht ist. Allerdings bin ich in Unterlagen auf Geschichten von Menschen in der Schweiz gestoßen, die noch im hohen Alter Anträge auf Sozialhilfe gestellt haben und die Zeit in Oberschwaben als unterstützungswürdige Zeit geltend gemacht haben. Ich las Familiengeschichten, bei denen deutlich wurde, dass sich die Erfahrungen als Schwabenkind ein Leben lang fortwirken. Menschen kamen wegen ihrer Traumata im Leben nicht mehr zurecht, wurden arbeitslos und sind abgestürzt. Diese Geschichten setzten sich manchmal über zwei oder drei Generationen fort. Allerdings wurde mir bei den persönlichen Gesprächen mit Nachfahren in der Schweiz und in Liechtenstein klar, dass das Thema nicht gewünscht ist. Selbst in Tirol habe ich versucht, Gespräche zum Thema zu führen, doch es wurde geblockt.
Wie haben die Menschen reagiert? Als ich das Thema aufgebracht habe, mussten sie sich zuerst lange erinnern. Plötzlich kamen Bruchstücke raus. Manchmal gab es sogar eine gewisse Aggression. Auch das habe ich im Buch aufgegriffen. In der Schweiz haben viele das Gespräch auf das Thema Verdingkinder gelenkt. „Wir hatten noch ein viel schlimmeres Thema“, hieß es da. Damals haben Kinderheime mit Waisenkindern Geschäfte gemacht und die Kinder als Erntehelfer verliehen.
Also wird das Thema bis heute verdrängt?
Bei den Schwabenkindern ging es ja ums Überleben. Für die Familien war es eine gewisse Form der Demütigung in der Gesellschaft, dass man das tun musste. In einem Artikel einer amerikanischen Zeitung Anfang des 20. Jahrhunderts wird sogar von der letzten Sklavengesellschaft in Europa gesprochen. Daraufhin hatte der amerikanische Präsident mit dem deutschen Kaiser gesprochen und der wiederum mit dem württembergischen König. Erst dann bestand auch für die Schwabenkinder Schulpflicht und das Schwabengehen wurde eingeschränkt. Bis heute habe ich weder auf deutscher noch Schweizer Seite Dokumente entdeckt, dass sich die Regierungen ausgetauscht haben. Auch in BadenWürttemberg ist das Thema nicht präsent, dabei kamen bis in die 1940er-Jahre Kinder nach Oberschwaben. Es gibt auch Geschichten von Kindern, die es sehr gut hatten, wo sogar Freundschaften entstanden sind, die bis heute von den Nachfahren gepflegt werden. Das sind aber die wenigsten.
Einer Ihrer Protagonisten ist Johannes, ein Nachfahre eines Schwabenkindes. Er sagt in Richtung Oberschwaben: Euer Wohlstand ist auf dem Leid unserer Vorfahren gegründet. Ist Ihnen dieser Vorwurf auch im Gespräch mit den Nachfahren der Schwabenkinder begegnet?
Nein, in diesen Gesprächen sind wir nie so weit gekommen. In einzelnen Dokumenten bin ich auf das Thema gestoßen. Darin wurde der ökonomische Wert erwähnt, den die Schweizer und österreichischen Kinder für die Bauern und die Volkswirtschaft hatten.
Wie sind Sie überhaupt auf das Thema Schwabenkinder für Ihren Krimi gekommen?
Es fing damit an, dass auch meine Urahnen während der Weltwirtschaftskrise als Kinder zu den Bauern mussten, dort Leid erfahren haben. Außerdem gibt es in unserem oberschwäbischen Sprachgebrauch ganz viele Begriffe, die auf diese Zeit zurückgehen – wie etwa der „Stallschweizer“. Zu diesem Thema forscht ein Professor aus der Region. Und natürlich gab es noch die Ausstellung im Bauernhausmuseum Wolfegg.
Dann sind Sie in die Recherche eingestiegen.
Richtig. Meine Frau ist Psychologin. Von ihr habe ich viele Forschungsergebnisse zum Thema generationsübergreifende Weitergabe von Traumata bekommen, und ich habe Interviews mit Psychologen geführt.
Sie schreiben von einer Terrorzelle, die sich an den Schwaben rächen will. Halten Sie einen solchen Fall für möglich? Oder gibt es sogar eine wahre Begebenheit dazu?
Ich denke nicht, dass dies heute in solchem Ausmaß möglich ist. Wichtig war mir, mit dieser Geschichte Aufmerksamkeit zu erregen, um auf das eigentlich Thema zu führen. Allerdings gab es in den 1980er-Jahren in Oberschwaben radikalisierte Gruppen, die Kontakte bis tief in die
Schweiz und durchaus das Aggressionspotenzial dazu hatten.
Vor allem Bodnegg ist ein Ziel von Anschlägen in Ihrem Buch. Warum ausgerechnet diese Ecke? Bodnegg steht zentral für die Region und es gibt dokumentierte Fälle aus der Gemeinde. Ich habe aber auch andere Fälle genommen und nach Bodnegg transferiert. Außerdem kenne ich diese Gegend in- und auswendig. Ich kenne die Straße von Kofeld nach Hannober, ich kenne die Drumlinlandschaft und das Kongo. Das ist meine Heimat. Tatsächlich nehmen viele meiner Leser meine Bücher auch als Reisevorlage, und auch dazu eignet sich die Gegend.
Warum lassen Sie Ihre Geschichte in der Schweiz spielen und nicht in Vorarlberg oder Tirol?
Weil oftmals nicht bekannt ist, dass die Schwabenkinder bis aus St. Moritz oder Südtirol gekommen sind. Für mich war es unfassbar, welche langen Wege diese Kinder auf sich genommen haben. Deswegen gehe ich bei meiner Geschichte bis nach Arosa in Graubünden.
Welches Ziel haben Sie mit Ihrem Buch verfolgt?
Viele Leser sagten mir, dass sie das Buch nachdenklich zurückgelassen hat und sie weiter lesen und recherchieren wollen. Es ist mir ein Anliegen, dass das Thema Schwabenkinder nicht verloren geht. Die Leidgeschichten, die man hier zu lesen bekommt, sind schon sehr dramatisch.
Inwieweit hat Sie die Arbeit mit dem Thema verändert?
Man wird sensibler für die Themen der Gegenwart. Zum Beispiel haben wir in vielen asiatischen Ländern eine große Migrationsbewegung von Kindern. Ebenso in einigen Regionen Afrikas und Südamerikas. Schwabenkinder im übertragenen Sinne gibt es auch heute noch, mit sehr viel Leid. Wir sollten uns dessen bewusst sein.