Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Erdogans Bankrott
Die Türkei hat mehr zur Versorgung syrischer Flüchtlinge getan als jedes andere Land. Sie hat Europa seit dem Jahr 2016 einen Großteil der Last abgenommen und fast vier Millionen Menschen aufgenommen. Dafür verdient sie Unterstützung und Anerkennung. Die Türkei hat sich aber auch in eine unrealistische Syrien-Politik verrannt. Nun hat sie syrische Flüchtlinge in Richtung Europa in Marsch gesetzt, um mit der Angst der EU vor neuen Flüchtlingen die politische Unterstützung zu erpressen. Das Manöver wird nicht gelingen. Aber es besiegelt den Bankrott der türkischen Syrien-Politik und wird das Misstrauen gegenüber Ankara im Westen schüren.
Präsident Recep Tayyip Erdogan will sich mithilfe der türkischen Armee und Ankara-treuer Rebellen eine Beteiligung an Verhandlungen über eine Nachkriegsordnung in Syrien ertrotzen. Als Nachbar hat die Türkei ein berechtigtes Interesse an der Zukunft Syriens. Gespräche mit dem syrischen Präsidenten Assad lehnt Erdogan jedoch ab – er versucht, seine Ansprüche mit der Brechstange durchzusetzen. Doch der russische Beistand für Assad macht die türkische Armee verwundbar für Luftangriffe wie den am Donnerstag.
Die jüngste Eskalation in Syrien hat Erdogan vor Augen geführt, wie isoliert sie ist. Die russische Führung steht zu Assad. Die westlichen Verbündeten halten sich zurück. Erdogan hatte den Westen immer wieder vor den Kopf gestoßen – in der Annahme, dass die Türkei wichtig genug ist, sich ihre Partner je nach Notwendigkeit aussuchen zu können. Nun sah die Türkei keinen anderen Ausweg mehr, als unschuldige syrische Flüchtlinge als Druckmittel einzusetzen, um die Europäer zur Unterstützung zu zwingen: Freiwillig, das weiß Erdogan, stellt sich kein Staat im Westen an ihre Seite.