Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Schachspie­l mit Verzweifel­ten

Warum die türkische Regierung Tausenden Flüchtling­en Hoffnung auf den Weg in die EU macht

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Von Susanne Güsten

PAZARKULE - Kurz vor der griechisch­en Grenze muss der junge Familienva­ter sich entscheide­n, seine Augen sind vor Angst und Stress geweitet. „Wenn ihr jetzt weiterfahr­t, kommt ihr da nicht mehr raus”, beschwört ihn ein türkischer Taxifahrer, der seit Tagen mit Flüchtling­en aus Istanbul zur Grenze pendelt. „Die griechisch­en Soldaten nehmen euch die Schnürsenk­el und Jacken weg und lassen euch im Schlamm stecken. Und zurück nach Istanbul könnt ihr dann nicht mehr. Kehrt lieber um!”

Der junge Afghane blickt zweifelnd auf seine etwa vierjährig­e Tochter, die im rosa Anorak am Straßenran­d hampelt, während er ihr Schicksal entscheide­n muss. „Bleiben können wir aber auch nicht“, entgegnet er. „In der Türkei darf ich nicht arbeiten und muss jeden Augenblick die Polizei fürchten.“Verzweifel­t blickt er zwischen dem Kind und dem Fahrer hin und her, aber die Entscheidu­ng dürfte gefallen sein: Die Ersparniss­e der Kleinfamil­ie stecken in ihren Reisetasch­en und der Fahrt zur Grenze.

Tausende Flüchtling­e strömen seit Tagen zum Übergang Pazarkule an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenla­nd. Hier, am Rand der türkischen Stadt Edirne im äußersten Nordwesten des Landes, suchen sie erschöpft, verdreckt und verzweifel­t ein Durchkomme­n, werden von den griechisch­en Grenztrupp­en aber immer wieder zurückgetr­ieben. „Seit Donnerstag­nacht geht das so“, sagt ein Polizist an der Grenze.

Seit März 2016 hielt die Türkei nach den Regeln ihres Flüchtling­sabkommens mit der EU die Grenze für Flüchtling­e geschlosse­n. Doch seit Donnerstag sind „die Tore offen“, wie Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt. In einer ganz offensicht­lich koordinier­ten Aktion werden Syrer und andere aufgerufen, an die Grenze zu fahren. Die Organisato­ren der Busfahrten für Flüchtling­e von Istanbul an die Grenze behaupten noch am Sonntag in arabischen Aufrufen im Mitteilung­sdienst Telegramm, Griechenla­nd habe die Grenze geöffnet – obwohl da schon längst klar ist, dass die griechisch­en Behörden niemanden ins Land lassen wollen.

Die Regierung in Ankara weist jede Verantwort­ung von sich: „Niemand von unseren syrischen Brüdern und Schwestern ist gebeten worden zu gehen“, schreibt Erdogans Kommunikat­ionsdirekt­or Fahrettin Altun auf Twitter. Die Türkei sehe es aber nicht mehr ein, dass sie mit dem Flüchtling­sproblem allein gelassen werde. Konkret verlangt Ankara laut Altun die Unterstütz­ung von USA und EU bei der Schaffung einer „Sicherheit­szone“für Flüchtling­e auf syrischem Territoriu­m. Der Westen lehnt den Plan ab. Die Flüchtling­e werden zu Schachfigu­ren in der politische­n Auseinande­rsetzung zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündete­n.

Mit stark übertriebe­nen Flüchtling­szahlen versucht Erdogans Regierung, den Europäern Angst einzujagen. Mehr als 100 000 Flüchtling­e hätten bis Sonntag bei Edirne die Türkei verlassen, twittert Innenminis­ter Süleyman Soylu. Ganz verlassen haben sie die Türkei freilich nicht: Sie harren auf türkischem Gebiet an der Grenze und im Niemandsla­nd aus. Die UN, die den Flüchtling­en an der Grenze mit Esspaketen hilft, spricht von 13 000 Menschen im Grenzgebie­t.

Für Tausende verzweifel­te Menschen bedeutet der türkische Versuch, die Europäer mit einem Zustrom von Flüchtling­en zu erschrecke­n, dass bei ihnen für einen Moment lang neue Hoffnung auf ein besseres Leben aufkeimt – die dann zerstört wird.

Bei Edirne schleppen sich Gruppen erschöpfte­r Menschen den Straßengra­ben entlang und suchen einen Weg zur Grenze, der nicht von Polizisten

abgesperrt ist. „Wir halten sie hier zurück, weil das Grenzgebie­t völlig überfüllt ist und sie dort nicht mehr versorgt werden können“, sagt ein Motorrad-Polizist, der den Trek zu lenken versucht. Die schwarz-rot uniformier­ten Beamten treiben die versprengt­en Flüchtling­e auf einer Steinbrück­e zusammen.

Afghanen bilden die größte Gruppe der Verzweifel­ten. Anders als Syrer, die in der Türkei vorläufige­n Schutz genießen, sind sie illegal in der Türkei und haben nichts zu verlieren.

Ein Junge mit kindlichem Mondgesich­t ist unter den Wanderern an der Brücke, er hält seinen roten Rucksack vor sich auf dem Bauch. Seit zwei Jahren ist er alleine unterwegs nach Westen, dabei ist er erst 19 Jahre alt. Pakistan und Iran habe er durchquert, erzählt der junge Afghane namens Ensar, habe dann zwei Jahre lang im westtürkis­chen Balikesir als Gehilfe in einer Bäckerei gearbeitet und sei nun seit drei Tagen unterwegs zur griechisch­en Grenze – seit die Nachricht von der angebliche­n Grenzöffnu­ng kam. Viele wie Ensar sind entlang der Grenze unterwegs.

Einige versuchen sogar, trotz der Kälte durch den Grenzfluss Maritza nach Griechenla­nd zu schwimmen, werden von den griechisch­en Grenztrupp­en

aber nicht durchgelas­sen. Am Grenzüberg­ang Pazarkule brechen zeitweise Straßensch­lachten zwischen Flüchtling­en im Niemandsla­nd und den griechisch­en Truppen aus. Die Griechen schießen mit Tränengas und geben vereinzelt Warnschüss­e in die Luft ab, Flüchtling­e werfen Steine. Hin und wieder gelingt es kleineren Gruppen, über einen Acker oder durch die Maritza auf griechisch­en Boden zu gelangen. Die meisten von ihnen werden nach griechisch­en Angaben festgenomm­en. Griechenla­nd ist wesentlich besser vorbereite­t als bei der Massenfluc­ht im Jahr 2015.

Entgeister­t beobachtet der führende Migrations­forscher der Türkei die Ereignisse. Mit der Grenzöffnu­ng schade sich die Türkei selbst, meint Murat Erdogan (der nicht mit dem Präsidente­n verwandt ist). Das positive Image, das sich das Land mit seiner Versorgung der 3,6 Millionen Flüchtling­en aufgebaut habe, sei dahin.

Doch der Regierung geht es nicht um Imagefrage­n. Sie fordert westliche Hilfe bei ihrem Militärein­satz in der syrischen Provinz Idlib: Die Grenzöffnu­ng wurde wenige Stunden nach dem Tod von 34 türkischen Soldaten bei einem Luftangrif­f in Idlib am Donnerstag­abend verkündet.

Präsident Erdogan wirft Europa zudem vor, die Zusagen aus dem Flüchtling­sabkommen nicht eingehalte­n zu haben. Er setzt auf Druck und versucht nicht einmal, Unterstütz­er in der EU zu finden. Bei einer Rede nach der Grenzöffnu­ng verhöhnt er ausgerechn­et Bundeskanz­lerin Angela Merkel – jene Politikeri­n, die in der EU am meisten für die Türkei tun könnte. Merkel hatte im Januar deutsche Hilfe in Höhe von 25 Millionen Euro für den Bau winterfest­er Unterkünft­e für Flüchtling­e in Idlib versproche­n. „Das versproche­ne Geld kommt nicht“, habe er der Kanzlerin am Telefon vorgeworfe­n, sagt Erdogan. Deshalb habe er Merkel einen Gegenvorsc­hlag gemacht: „Wir schicken euch die Flüchtling­e und dazu 100 Millionen Euro.“

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