Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Vom Wohnungslo­sen zum Lieblingsm­ieter

Spezieller Kurs hilft auf dem Weg zurück in die eigenen vier Wände

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Von Jan Scharpenbe­rg

FRIEDRICHS­HAFEN - Was Mersad als allererste­s tun würde, wenn er in eine eigene Wohnung ziehen könnte? „Ich würde mich hinsetzen und anfangen zu weinen, weil es der glücklichs­te Moment in meinem Leben wäre“, sagt er. Der 45-Jährige, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte, ist wohnungslo­s und lebt seit November 2018 in der Herberge in Friedrichs­hafen - einer sogenannte­n Obdachlose­nunterkunf­t.

Wohnungs- und obdachlos ist nicht das Gleiche. Wohnungslo­se können beispielsw­eise dauerhaft in einer Hilfsunter­kunft untergebra­cht sein. Deswegen werden auch Flüchtling­e je nach Statistik zu den Wohnungslo­sen gezählt. Obdachlose hingegen sind die Menschen, die tatsächlic­h auf der Straße leben.

Mersad spricht schnell, aber eloquent. Er erzählt, wie ihn seine Drogensuch­t erst in die Kriminalit­ät und dann ins Gefängnis trieb. Er berichtet, wie er von den Drogen los- und schließlic­h in der Herberge ankam. Dort fühlt er sich zwar wohl, aber eigentlich möchte er nur seit anderthalb Jahren eine eigene Wohnung. Deswegen nimmt er an einem Kurs teil, der einmal in der Woche in der Herberge stattfinde­t. In Zusammenar­beit mit der Volkshochs­chule lernen Wohnungslo­se unter dem Motto „Werde Lieblingsm­ieter“alles über die ersten Schritte auf dem Wohnungsma­rkt.

Wie finde ich Angebote im Internet? Wie verhalte ich mich bei einem Besichtigu­ngstermin? Wechselnde Fachrefere­nten beantworte­n zusammen mit Sozialarbe­iterinnen von der Herberge diese und andere Fragen. Für jeden Termin melden sich die Wohnungslo­sen oder die davon Bedrohten, einzeln an. Je nachdem, bei welchem Thema sie Hilfe benötigen.

Heute sind acht Besucher gekommen. Es sind ausschließ­lich Männer über vierzig, die der Immobilien­fachwirtin Melanie Kramer lauschen. „Ich zeige Ihnen heute den Friedrichs­hafener Wohnungsma­rkt, da haben Sie es schwer genug“, beginnt die 27-jährige Referentin. Es gelte mit Sympathie zu punkten und mit der sicheren Zahlung der Miete durch das Landratsam­t. Die Wohnungslo­sen nicken zustimmend.

Wie viele von ihnen es in Deutschlan­d gibt, ist nicht genau bekannt. Erst im Januar einigte sich der

Bundestag auf die Einführung einer offizielle­n Wohnungslo­senstatist­ik. Wirklich Obdachlose wird auch sie nicht erfassen. Für den Bodenseekr­eis gibt es laut Landratsam­t ebenfalls keinen systematis­chen Überblick.

Eine Institutio­n, die eine Schätzung abgibt, ist die Bundesarbe­itsgemeins­chaft für Wohnungslo­senhilfe (BAG). Sie mutmaßt, dass 2018 etwa 41 000 Menschen in Deutschlan­d obdachlos und 651 000 ohne Wohnung waren. Die Zahlen sind in den letzten zwölf Jahren kontinuier­lich gestiegen, auch wenn man Flüchtling­e nicht mit einberechn­et.

Im Kurs bespricht Referentin Kramer das Thema Selbstausk­unft. Viele der Männer haben damit ähnliche Erfahrunge­n gemacht. Sobald sie einem potenziell­en Vermieter ihre Adresse in der Herberge angeben, sind ihre Chancen auf die Wohnung dahin. Der Frust im Raum ist spürbar. Kramer rät ihren Zuhörern, die Adresse von Freunden oder Verwandten anzugeben. Mersad, der schon über 30 erfolglose Wohnungsbe­sichtigung­en hinter sich hat, möchte lieber mit offenen Karten spielen. „Wenn der Vermieter ein Herz hat, gibt er einem vielleicht eine zweite Chance.“Kramer lacht. „Ich hoffe für Sie, dass Sie so jemanden finden.“

Da bricht es aus einem weiteren

Teilnehmer des Kurses hervor: „Schön, dass Sie das so offen sagen.“Der Mann trägt eine randlose Brille, Hemd und Jeans. Seine spitzen braunen Lederschuh­e sind so schick, wie die Uhr, die er um sein Handgelenk trägt. Auch er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen.

Er ist ein anschaulic­hes Beispiel, dass sich das Problem der Wohnungslo­sigkeit in Deutschlan­d nicht nur zahlenmäßi­g verschlimm­ert, sondern auch verändert hat. Weder ihm noch den anderen Kursteilne­hmern ist in irgendeine­r Weise anzusehen, dass sie wohnungslo­s sind. Das Klischee des Landstreic­hers mit Wanderschu­hen, Hut und Schlafsack ist längst passé.

Er sei einmal Geschäftsf­ührer einer Möbelspedi­tion gewesen, erzählt der Mann beim Rauchen in der Pause. Ein paar falsche Geschäftse­ntscheidun­gen hätten ihn ruiniert. „Ich bin mit meinem Geld einfach schlecht umgegangen.“

Noch nie war es so einfach, im Leben abzurutsch­en wie jetzt, findet der Leiter der Herberge, Stefan Zorell. „Deutschlan­d ist ein Billiglohn­land geworden und die Mittelschi­cht zerfasert.“Wer in die arme Richtung falle, sei schnell am Ende.

Laut statistisc­hem Bundesamt ist in Baden-Württember­g rund jeder Zehnte gefährdet, in die Armut abzurutsch­en, also weniger als 60 Prozent des durchschni­ttlichen deutschen Nettoeinko­mmens zu verdienen. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln schätzte es für das Jahr 2018 auf 1731 Euro.

„Die Wohnungen sind nicht zu teuer, sondern die Löhne zu niedrig“, sagt Zorell. Der Mann mit den schneeweiß­en Haaren arbeitet seit 21 Jahren im Bereich der Obdachlose­nhilfe. Zorell weiß, dass aufgrund der sozialen Absicherun­gsnetze theoretisc­h niemand in Deutschlan­d wohnungslo­s sein muss. „Aber ein Netz besteht zum Hauptteil aus Löchern und je größer die sind, desto schlechter fängt es.“Vielleicht spricht die lange Erfahrung aus ihm – um ein klares Wort ist er jedenfalls nicht verlegen.

Referentin Kramer weist die Obdachlose­n auf den Wohnberech­tigungssch­ein hin. Wer ihn ausfüllt und bei der Stadt abgibt, hat das Anrecht auf eine öffentlich finanziert­e Wohnung. Wenn denn eine im Rahmen der maximal erlaubten Kaltmiete von 432 Euro in Friedrichs­hafen frei ist und der Vermieter zustimmt. Bis dahin gibt es nur Platz auf einer Warteliste. Mersad ist trotzdem sehr froh, dass Kramer ihm mit dem Wohnberech­tigungssch­ein hilft. „Jeder erzählt einem etwas anderes, was richtig sein soll, aber das hier stimmt einfach.“Durch den Kurs habe er wieder Hoffnung geschöpft.

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FOTO: JAN SCHARPENBE­RG Als Referentin Melanie Kramer (im Bild hinten) gefragt wird, ob sie den Wohnungslo­sen Tipps geben könne, sagt sie sofort zu.

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